Karlsruhe/Rhein-Neckar, 03. März 2016. (red/ms) Ganze 60 Jahre ist es her, dass in der Bundesrepublik zuletzt eine Partei verboten wurde. Bald könnte es wieder so weit sein: Vor dem Bundesverfassungsgericht wird aktuell über ein Verbot der rechtsradikalen NPD verhandelt. Dabei sind Grundsatzdebatten unausweichlich – einen Präzedenzfall aus der jüngeren Vergangenheit gibt es nicht. Klar ist: Was für eine Partei gilt, muss für alle gelten. Welche Maßstäbe sollten also angesetzt werden?
Kommentar: Minh Schredle
Es ist ein historischer Prozess. Denn es geht um weit mehr als nur das Verbot einer politisch weitgehend unbedeutenden 1-Prozent-Partei. Am Bundesverfassungsgericht (BVG) ist in in diesen Tagen Großes im Gange: Eine Gretchenfrage der Demokratie soll beantwortet werden.
Es geht an die fundamentale Substanz
Das ist auch für die Richter selbst eine große Herausforderung. Das Parteiverbot sei ein scharfes und gleichzeitig zweischneidiges Schwert, erklärt Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, der Präsident des BVG gleich zu Beginn des Verfahrens. Prof. Dr. Voßkuhle ist außerdem der Vorsitzende des Zweiten Senats, der das Verbotsverfahren gegen die NPD leitet. Er stellt klar:
Jedes Parteiverbotsverfahren stellt eine ernsthafte Bewährungsprobe für den freiheitlich demokratischen Verfassungsstaat dar.
Die Aussage ist nicht einfach eine Phrase – denn es geht an die fundamentale Substanz der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Es geht um nicht weniger als die Frage, wie man die Freiheiten der deutschen Demokratie zu verstehen hat – gemessen an ihren Grenzen.
Da sind Grundsatzdebatten unausweichlich: Nach dem Grundgesetz geht alle Staatsgewalt vom Volk aus, gleichzeitig ist dort das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung verankert, die keiner staatlichen Zensur unterworfen werden darf. Kann es dann überhaupt demokratisch sein, eine Partei zu verbieten? Ist die Untersagung irgendeiner Weltanschauung vereinbar mit dem Grundrecht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit? Muss eine Demokratie nicht auch unliebsame Äußerungen aushalten können?
Daran scheiden sich die Geister. Grundsätzlich ist die Freiheit der Demokratie aber nicht grenzenlos und das hat gute Gründe. Als oberstes Gut ist im Grundgesetz die Würde des Menschen verankert. Sie ist unantastbar. Das heißt: Auch eine große Mehrheit des Volkes könnte sie nicht abschaffen, ohne die gesamte Verfassung abzuschaffen.
Auch in der Demokratie gilt der Grundsatz: Die Freiheit des Individuums hört dort auf, wo die Freiheit des anderen eingeschränkt wird. Was bedeutet das aber nun konkret für politische Gestaltungräume? Was ist das absolute Mindestmaß, was von allen Parteien als Grundkonsens verlangt werden können muss? Eindeutige Festlegungen gibt es dazu bislang kaum. Einen ersten Ausgangspunkt bietet Artikel 21 des Grundgesetzes. Darin heißt es:
(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.
(2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.
(3) Das Nähere regeln Bundesgesetze.
Was in den Bundesgesetzen geregelt wird, sind weitestgehend Formalitäten und Abläufe. Über Vorgaben zur inhaltlichen Ausrichtung wird dort nichts erwähnt. Einziger Anhaltspunkt bleibt damit vorerst die Voraussetzung, dass sie nicht nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen dürfen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen.
Diese Vorgabe ist reichlich vage und lässt einen breiten juristischen Ermessensspielraum offen: Wann genau ist der Bestand der Bundesrepublik Deutschland gefährdet? Muss das BVG abwarten, bis es so weit ist, bevor es tätig werden darf? Sind Präventivmaßnahmen möglich? Welche Maßstäbe setzt man für das Verhalten der Partie-Anhänger an? Müssen das alles Mitglieder sein? Oder reicht es, zu sympathisieren? Muss sich für ein Verbot nur eine einzelne Person einen Fehltritt erlauben? Oder müssen sich erst alle Vertreter schuldig machen? Soll man einen prozentualen Anteil einführen? Wenn ja: Über welchen Zeitraum gilt der? Soll es mehr Nachsicht in der Gründungsphase geben? Und am wichtigsten: Was genau ist eigentlich unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung?
Eine klare, präzise juristische Definition dafür gibt es bislang nicht – das macht das Verbotsverfahren gegen die NPD noch einmal deutlich komplexer, als es ohnehin schon ist. Denn was für eine Partei gilt, muss für alle Parteien gelten.
Daher werden die Maßstäbe, die im Verfahren angelegt werden, bindend sein – und zwar unabhängig davon, ob die NPD verboten wird oder nicht. Die Schaffung eines Präzedenzfalls ist nahezu unumgänglich, nachdem der Zweite Senat des BFG am heutigen Verhandlungstag festgestellt hat, dass nach gegenwärtigem Kenntnisstand keine Verfahrenshindernisse vorliegen.
Egal, wie das Urteil am Ende aussieht – es wird weitreichende Folgewirkungen für die kommenden Jahrzehnte haben. 1956 wurde in der Urteilsbegründung im Verbotsverfahren gegen die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) seitens des Bundesverfassungsgerichts ausgeführt:
Eine Partei ist nicht schon dann verfassungswidrig, wenn sie die obersten Prinzipien einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht anerkennt; es muß vielmehr eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung hinzukommen.
Diese Rechtssprechung hat noch heute maßgeblichen Einfluss auf die Debatte. Doch lässt auch sie Raum für Spekulationen offen – ab wann genau ist eine Haltung aktiv kämpferisch und aggressiv?
Auch hierfür gibt es keine klar definierten juristischen Vorgaben. Und: All diese Punkte beziehen sich nicht auf die NPD im Konkreten, sondern auf Parteien im Allgemeinen. Im Rechtsstaat müssen doppelte Standards um jeden Preis vermieden werden. Es braucht klare Richtlinien, die für alle gleichermaßen gelten.
NPD-Anwalt: Es darf keine Denkverbote geben
NPD-Anwalt Peter Richter ist der Ansicht, Parteien sollten generell überhaupt nicht verboten werden dürfen, egal was sie fordern, da der mündige Wählerwillen der höchste Souverän sei. Ein Volk müsse sich auch von einer Monarchie regieren lassen dürfen, wenn es sich das mehrheitlich wünscht. In der Demokratie dürfe es „keine Denkverbote“ geben.
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Aber was, wenn eine Mehrheit auf die Idee kommt, Randgruppen auszurotten? Wenig später widerspricht sich der NPD-Anwalt Richter vor dem Bundesverfassungsgericht. Dann sagt er nämlich auf Rückfrage der Richter, es müsse natürlich Grenzen geben, die unantastbar bleiben müssten – etwa die Menschenrechte. Ob das wohl alle NPD-Anhänger genauso sehen?
Es liegt auf der Hand, wie die uneingeschränkte Herrschaft der Mehrheit zu massiven Missbrauch führen kann – beispielsweise wenn Minderheiten unter dem Deckmantel einer Rechtmäßigkeit diskriminiert werden. Jeder kann denken, was er will und dagegen kann es niemals ein wirksames Verbot geben – aber manche Forderungen haben in der öffentlichen Debatte schlichtweg nicht das Mindeste verloren.
Gerade in der aktuellen Debatte erscheint es angemessen, die Grenzen der Meinungsfreiheit klipp und klar zu definieren. Möglichst liberal, aber nicht völlig uneingeschränkt. Eine Demokratie muss sicherlich viel aushalten, viel mehr als andere Herrschaftsformen – aber sicher nicht alles ertragen. Oder sollte der Rechtsstaat beim Aufstieg einer zweiten NSDAP tatenlos zusehen?
Meinungsvielfalt vs. Menschenverachtung
Die Gesetzgebung braucht eine Möglichkeit, menschenverachtende Ideologie unterbinden zu können. Gleichzeitig dürfen die Festlegungen nicht zu einschnürend sein, um eine pluralistische Meinungsvielfalt weiter zu gewährleisten.
Das Zauberwort heißt Verhältnismäßigkeit: Jegliche Parteiverbote dürfen auch in Zukunft nur in absoluten Ausnahmefällen vorgenommen werden und ein Missbrauch, damit unliebsame politische Konkurrenz zu unterdrücken, muss ausgeschlossen sein. Alles andere wäre unerträglich.
Juristische Festlegungen laufen in diesem Zusammenhang zwangsläufig auf eine Gratwanderung hinaus – eben „eine ernsthafte Bewährungsprobe für den freiheitlich demokratischen Verfassungsstaat“.
Knapper Zeitraum – eindeutige Belege?
Der Zeitraum von drei Tagen, den das BVG zunächst für das Verbotsverfahren angesetzt hat, wirkt vor diesem Hintergrund knapp bemessen. In dieser Zeit werden allerdings etliche Politologen und Extremismusexperten als sachkundige Auskunftspersonen intensiv durch herausragende Richter angehört.
Was die NPD angeht, lassen sich eindeutige Belege für Menschenfeindlichkeit und Rassismus in den eigenen Reihen finden. Gleichzeitig ist die politische Bedeutsamkeit in weiten Teilen Deutschlands verschwindend gering.
Das Ausmaß der Verbindungen zum rechtsextremen Untergrund ist nicht genau bekannt. Zumindest gibt es aber klare Indizien für personelle Verflechtungen.
Die Partei selbst ruft nicht offen zu Gewalt auf. Der Anteil der straffällig gewordenen Parteimitglieder, auch auf Führungsebene, ist signifikant: Nach Angaben von Spiegel Online sei jedes vierte Vorstandsmitglied rechtskräftig verurteilt. Dieser Quotient ist mehr als bedenklich – so denn die journalistische Expertise juristischer Prüfung standhält.
Im „Aktionsprogramm für ein besseres Deutschland“ aus dem Jahr 2003 dient der NPD noch heute als politische Grundlage, wie Extremismusexperten vor dem Bundesverfassungsgericht mitteilen. Darin heißt es unter anderem:
Grund und Boden sind Eigentum des deutschen Volkes. Ausländer haben aus diesem Grund nicht die Möglichkeit, Eigentümer von Grundstücken zu werden. Miet- und Pachtverhältnisse sind davon ausgenommen. Eventuell bestehende Besitzverhältnisse sind aufzulösen oder rückzuübertragen.
Das erinnert stark an die Arisierung, mit der unter dem NS-Regime Juden ihres Eigentums beraubt worden sind. An anderer Stelle heißt es:
Ausländer ohne Arbeitserlaubnis oder Sonderaufenthaltsgenehigung haben Deutschland nach längstens dreimonatigem Aufenthalt unverzüglich zu verlassen. Notwendige Gesetze haben eine praktikable Abschiebung zu regeln, welche zudem die Betreffenden an den Kosten zu beteiligen hat.
Weiterhin wird darin beklagt, es würden viel mehr „Ausländer“ in Deutschland leben, als offiziell bekannt – die Statistiken würden nämlich nicht die zahlreichen „Ausländer mit BRD-Pass“ enthalten. Noch heute unterscheidet die NPD zwischen Staatszugehörigkeit und Volksherkunft. Der „Multikultiwahn“ zerstöre den „deutschen Volkskörper“:
Die Gemeinsamkeit von Geschichte, Kultur und Abstammung wird durch bewußt herbeigeführten, fortgesetzten Ausländerzustrom vernichtet.
Im Programm gibt es nicht nur jede Menge Rassismus – sondern auch erschreckende Parallelen zur NSDAP.
Bundesweit kommt die NPD zwar nur auf etwa ein Prozent. Doch gerade im Osten sind die Strukturen sehr verfestigt. Nicht immer sind die Rechtsextremisten stark in den politischen Gremien vertreten. Doch: Immer wieder ist von „einem Klima der Angst die Rede“ – Lokaljournalisten berichten regelmäßig, dass sie sich nicht mehr trauen, von vor Ort zu berichten. Einschüchterungsmaßnahmen, Beleidigungen, Drohungen seien allgegenwärtig.
Gratwanderung – scheitert das Verbot, bekommt die NPD Aufwind
Aktuell ist die NPD noch demokratisch legitimiert. Jedes Jahr erhält sie als zugelassene Partei eine Parteienfinanzierung in Höhe von etwa 1,2 Millionen bis 1,4 Millionen Euro. Aktuell setzt die Parteiführung auf einen radikalen Imagewechsel und will sich seriös geben – es ist nicht auszuschließen, dass sie damit mittelfristig Anschluss an breitere gesellschaftliche Schichten findet.
Sollte das Verbot vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern, wird es der Partei zweifellos Aufwind verschaffen. Dann haben die Rechtsradikalen quasi einen höchstrichterlichen Bescheid ihrer Wählbarkeit.
Im gegenteiligen Fall ist allerdings nicht sichergestellt, dass der Rechtsextremismus in der Gesellschaft effektiv bekämpft worden ist. Die strukturell tief in der Gesellschaft verankerten Ressentiments lassen sich nicht durch einen gerichtlichen Beschluss beseitigen.
Historische Dimension
Diese Aspekte sind allerdings für die Entscheidungsfindung des BVG irrelevant. Die Entscheidung darf nicht politisch, sondern muss rein juristisch getroffen werden.
Doch ist sie möglicherweise einem Dilemma unterworfen.
Die Gretchenfrage lautet:
Nun sagt, wie habt Ihr es mit der Rechtsstaatlichkeit für die, die Euch nicht gefallen? Ihr seid herzlich gute Leute, allein ich glaub, Ihr haltet nicht viel davon.
Die Kriterien, die für die Zulässigkeit und Unzulässigkeit von Parteien definiert werden, sind richtungsweisend und mehr als „bedenklich“. Die Bundesverfassungsrichter haben eine äußerst schwere Entscheidung und eine ebenso schwere Verantwortung vor sich. Es ist im wahrsten Sinne ein historischer Prozess von enormen Ausmaßen.
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… der Reporter ist aktuell drei Tage vor Ort in Karlsruhe, um dieses grundlegende Ereignis zu dokumentieren. Wird nach 60 Jahren erstmals wieder eine Partei verboten? Am Dienstag dauerte der Arbeitstag von 07:30 Uhr Abfahrt Mannheim bis 21:45 Uhr Rückkehr Mannheim. Am Mittwoch von 08:00 Uhr bis 20:30 Uhr. Wenn Sie unser Angebot nutzen, freuen wir uns über Ihre finanzielle Unterstützung als Mitglied im Förderkreis – Sie spenden für informativen, hintergründigen Journalismus. Den gibt es nicht ohne Geld. Hier geht es zum Förderkreis.