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Mannheim/Rhein-Neckar, 02. Juli 2011. Thilo Sarrazin – als „Spalter der Nation“ spätestens 2010 bundesweit bekannt geworden, hat in Mannheim einen „Vortrag“ gehalten. Auf Einladung der Wirtschaftsjunioren Mannheim-Ludwigshafen. Die haben sich davon viel Aufmerksamkeit erhofft. Ist die Rechnung aufgegangen? Sind die Wirtschaftsjunioren Förderer der „Meinungsfreiheit“ oder Beförderer eines neuen statistischen Rassismus?
Von Hardy Prothmann
Der Sall im Rosengarten ist gefühlt fast voll – tatsächlich gibt es Lücken. Der Blick über die Köpfe sieht viel grau, Glatzen oder Friseurdienstleistungen. Schwarze, feste, gar gekreuselte Haare sind kaum zu erkennen.
Der Saal ist definitiv „deutsch“ besetzt. „Integration“ ist nur hier und da sehr angepassst zu erkennen – wenn, dann extrem blondiert.

Hinterköpfe der deutschen Leistungselite - wie intelligent sind die Intelligenten tatsächlich, wenn sie sich für krude Thesen eines "Salonrassisten" interessieren? Bild: rheinneckarblog.de
Die Schuhe sind geputzt, überwiegend nicht billig, ab und an „extravagant“. Der sonstige Dress ist dunkel, die Herren in Schlips, die meisten Damen im Kostüm, Kleider sind rar. Die meisten Lippen sind dünn. Die Stirne in Falten gelegt. Ein Ort der Freude wirkt anders.
Schmale Lippen – steinerne Gesichter.
Die vielen alten Gesichter sind steinern. Die jüngeren wirken angespannt und gestresst. Nervös.
Thomas Steckenborn, Vorstand der Cema AG, redet als Sponsor als erster. Man wolle sich auch mit kritischen Thesen auseinandersetzen und irgendwas von „Meinungsfreiheit“ und gibt einen Seitenhieb auf Dr. Peter Kurz, den Oberbürgermeister, der sein „Unverständnis“ über die Einladung Sarrazins deutlich gemacht hat. Danach reden noch zwei andere „Wirtschaftsjunioren“, also Unternehmer bis 40 Jahre.

Wer ist wohl hier der intelligenteste? Bild: rheinneckarblog.de
Es wird nicht gescherzt. Nicht geplaudert.
Rund 400 Gäste warten. Auf Thilo Sarrazin – den Spalter der Nation. Und geht es nach den Wirtschaftsjunioren, geht es um „Meinungsfreiheit“, um eine offene Debatte. Die Argumentation ist dumm – kaum jemand hat so viel „Meinungsfreiheit“ genossen, wie Thilo Sarrazin.
1,3 Millionen verkaufte Bücher, Berichte über Berichte in den Medien, Einladungen über Einladungen – Herr Sarrazin ist der letzte, der sagen muss: „Das wird man doch noch sagen dürfen.“ Er hatte wirklich genug Gelegenheiten.
Und die Wirtschaftsjunioren – glauben die tatsächlich, dass sie Meinungsfreiheit fördern? Und nicht eine Art statistischen Rassismus? Die Relativierungen eines Sarrazin taugen nicht, wenn er sagt, dass er „durchaus integrierte, intelligente Migranten“ kennt – gleichzeitig aber deutlich macht, dass diese nur „Ausnahmen“ seien. Der Kern seiner Botschaft bleibt: Vor allem Muslime sind dümmer als der Rest der Menschheit und „schaffen Deutschland ab“.
Und die Wirtschaftsjunioren geben diesem Mann bewusst ein Forum – ohne Gegenrede durch versierte Gesprächspartner beispielsweise auf einer Podiumsdiskussion, ohne Prüfung seiner „Fakten“ durch Fachleute in einer direkten Konfrontation. Die Wirtschaftsjunioren wählen die Konfrontation und fühlen sich „stark“ dabei – das merkt man an den Rednern vor Sarrazin.
Der Hartz-IV-Thilo.
Wer ist eigentlich dieser Thilo Sarrazin? Das muss man sich fragen, wenn man diesen kauzigen Typen sieht, der davon redet, dass er auf „Hartz-IV-Niveau“ einkauft, wenn er mit seiner Frau drei Tage in seinem Ferienhaus auf Usedom verbringt und diese „nur für 28,50 Euro alle Lebensmittel eingekauft hat“. Oder feststellt, dass Taxifahrer überwiegend Perser sind. Und viele Muslime, davon viele Perser, eigentlich keine Muslime sein wollen, aber aus Angst vor dem Islam Muslime bleiben.
Thilo Sarrazin ist ein Bürokrat. Einer, der nie für ein Unternehmen verantwortlich gewesen ist, sondern eine Verwaltungskarriere hinter sich hat. (Abgesehen von einem Jahr bei der DB AG, was aber auch eher nicht „Wirtschaft“ ist.) Und immer mit „Statistiken“ arbeiten musste. Mit Akten. Aber nie auf persönliches Risiko. Und fast überall, wo er war, gab es Streit.
Sein Kontakt zur „Außenwelt“ ist die Einkaufsquittung seiner Frau, das Gespräch mit Taxifahrern oder Leuten auf dem Bahnhof. Und die verstehen ihn. Sagt er.
Und die im Saal? Warum sind die hier? Was wollen sie in Erfahrung bringen? Wie man eine exponierte Stellung als (Ex)-Bundesbanker missbraucht, um das seit über zehn Jahren bestverkaufteste „Sachbuch“ zu schreiben und zu vermarkten?
Müsste Deutschland nicht asiatisch werden?
Glaubt jemand tatsächlich, dass die Aussage, Intelligenz sei zu „50-80 Prozent“ erblich, eine „wissenschaftliche“, also exakte Aussage ist? Oder das Ostasiaten intelligenter seien als der Durchschnittsamerikaner, weil in Amerika angeblich 60 Prozent der Ingenieurswissenschaften mit Chinesen, Vietnamesen und so weiter besetzt seien? Während in Deutschland und anderen Ländern der westlichen EU vor allem die Muslime überwiegend von Sozialhilfe lebten und nichts leisteten, außer „Kopftuchmädchen“ zu zeugen und so statistisch gesehen Deutschland immer dümmer machten?
Denkt jemand darüber nach, ob das so alles stimmen kann? Danach müsste Ostasien der Hort der Innovationen, der Erfindungen sein – doch das ist nicht so. Warum nur? Und könnte es, „statistisch gesehen“ einfach so sein, dass es eben sehr viel mehr „Ostasiaten“ gibt als Amerikaner und Westeuropäer und im Vergleich gesehen es somit nur einige der Asiaten in „höhere Positionen“ schaffen? Und darüber, dass das, was in Amerika und auch in England der Fall ist, vielleicht mit einer größeren Durchlässigkeit zu tun hat, also einer Gesellschaft, in der auch „Ausländer“ den Weg nach oben schaffen können? Wie viele „Ostasiaten“ sitzen den in Deutschlands Führungsetagen? Genauso wenig wie Mitglieder anderer „Ethnien“?

Alte "Leistungselite" - auch die Alten haben ihren Anteil an der Verdummung der Deutschen. Laut Sarrazin. Ob sie das verstanden haben? Bild: rheinneckarblog.de
Aber mal angenommen, die Asiaten wären so viel schlauer – müsste das, konsequent gedacht, nicht heißen, dass Deutschland asiatisch werden muss, um sich „nicht abzuschaffen“?
Und erinnert sich irgendjemand, falls er das weiß, dass gerade Afrika, die arabische Welt, Indonesien und Indien über Jahrhunderte vom Kolonialismus ausgebeutet worden sind? Zum Wohle der westlichen Gesellschaft?
Oder denkt jemand an die neuen Bundesländer, wo ja lauter Deutsche mit „gutem Erbgut“ leben, eben der Erfolg des „Nachkriegsdeutschland“ sowohl während der DDR-Diktatur und auch danach nicht wiederholt werden konnte?
Hört jemand wirklich zu, was „man mal noch sagen müssen darf“?

Äh, äh, äh - Sarrazin stellt nicht nur fragwürdige "Thesen" auf - er ist zudem ein miserabler Redner. Bild: rheinneckarblog.de
Hört jemand zu, wenn der „faktenorientierte“ Sarrazin von der „vierten Generation“ der Einwanderer spricht? Denkt jemand darüber nach, dass er dann über eine Zeitspanne von mindestens 70-80 Jahren spricht, also einer Einwanderung, die zwischen 1930-1940 begonnen haben müsste?
Und hören die über 40-jährigen, die weit mehr als die Hälfte der Gäste im Saal ausmachen, Sarrazin genau zu, der behauptet, die „Hauptleistungsfähigkeit“ habe man in einem Lebensalter von 25-40 Jahren und danach baue man ab, was in der Konsequenz ebenfalls die Verdummung verschärfe? Keiner zieht den Schluss, dass der 65-jährige Sarrazin schon lange über den Zenit der Kreativität und intelligenten Leistungsfähigkeit hinaus ist und gerade alle älteren zur Belastung für Deutschland erklärt hat.
Dafür lacht der Saal, wenn Sarrazin über Schwule und Leistungsempfänger herzieht.
Glaubt jemand tatsächlich, dass seine kruden Thesen über erbliche Intelligenz „von niemandem wiederlegt seien“? Tatsächlich gibt es positive Studien, die diese These ad absurdum führen und keine, die dies auch nur annähernd belegen könnten.
Versteht jemand, dass Sarrazins „Schlüsse“ auf einem willkürlich zusammengebastelten „Konstrukt“ bestehen und er „wissenschaftlich“ nicht nur fragwürdig, sondern vollkommen unzureichend „gearbeitet hat“? In der Wissenschaft verwendet man nicht nur „Erkenntnisse“, die passen, sondern eben auch die, die nicht passen.
Was der Eklektiker Sarrazin treibt, ist seine rassistisch-chauvinistischen Thesen, sein krudes Weltbild aufzustellen und es dann mit aus dem Zusammenhang gelösten „Erkenntnissen“ und „Beweisen“ zu „bestätigen“. Und es ist anmaßend, weil ein einzelner eitler Mann vorgibt, über verschiedenste Wissenschaftsbereiche den Überblick zu haben – und das bei einem Wissensstand, den noch nicht mal renommierteste Experten in ihren jeweiligen Einzelwissenschaften komplett überblicken können. Dafür braucht es ausgewiesene Hybris.
Wie dumm sind „Intelligente“, wenn sie sich nicht mehr vermehren?
Tatsächlich hat Thilo Sarrazin aber auch mit gewissen „Beobachtungen“ recht – die Integration gerade muslimischer Menschen in Deutschland könnte besser sein. Die kulturellen Unterschiede sind hoch – aber sie werden nicht besser, wenn man Ausländer ghettoisiert und ihnen danach vorwirft, dass sie ghettoisiert sind.
Thilo Sarrazin hat auch recht, dass die deutschen Frauen zu wenige Kinder bekommen, 1,3 im Schnitt pro Frau. Das ist eine statistische „Tatsache“ – aber was sagt sie aus? Welche Realität beschreibt sie? Gerade akademisch gebildete, also scheinbar intelligente Frauen, liegen noch unter diesem Schnitt. Sie machen Karriere und bekommen meist mit Mitte 30 bis Anfang 40 ihr „nice-to-have“-Kind, das dann alle Aufmerksamkeit und Förderung erhält.
Für andere deutsche Frauen, die womöglich noch alleinerziehend sind, sind Kinder, gar mehrere ein Armutsrisiko – auch das ist „statistisch“ erwiesen.
Rund ein Viertel der Gäste an diesem Abend sind Frauen im Kostüm – wie viele Kinder die wohl zuhause haben? Wie viele dieser Frauen sind wohl Vorstände, Aufsichtsräte, verantwortliche Geschäftsführerinnen? Sind Frauen dümmer als Männer, weil es so wenige von ihnen in Führungspositionen gibt?

Ordnung muss sein - ein kritischer Gast wird von Ordner "entfernt". Merkwürdige Haltung der Wirtschaftsjunioren in Sachen "Meinungsfreiheit".
Am Ende des Vortrags gibt es eine Fragerunde – ein Gast, der keine Frage stellen will, sondern ein Statement abgeben möchte, wird von einem aggressiven „Moderator“ des Saals verwiesen, herbeigerufene „Ordner“ drängen den jungen Mann aus dem Saal. Ist es das, wofür die „Wirtschaftsjunioren“ stehen? Saalordner?
Wer holt den Müll ab?
Ein anderer Gast stellt eine Frage: „Herr Sarrazin, Sie haben nun eine ist-Analyse aus Ihrer Sicht vorgestellt. Was schlagen Sie als Lösung vor?“ Sarrazin antwortet: „Wir brauchen mehr Kinder von intelligenten Frauen und weniger von weniger intelligenten Frauen. Die Einwanderung von Muslimen muss begrenzt werden und wir brauchen intelligente Zuwanderung…“
Haben 50-80 Prozent der Wirtschaftsjunioren das verstanden? Dass ihre Unternehmen in ein bis zwei Generationen also von „Ostasiaten“ zu „60 Prozent“ geführt werden, weil der Durschnittsdeutsche vielleicht ähnlich intelligent, aber durch kulturelle Unterschiede nicht so leistungsfähig ist?
Man darf gespannt sein, ob sich die „Wirtschaftsjunioren“ diese Lösungen zu eigen machen und sofort mit der Produktion von intelligenten Kindern beginnen, um „Deutschland zu retten“, vermehrt „Ostasiaten“ einstellen. Und sich dann dafür einsetzen, Deutschland „dicht“ zu machen – die Frage ist nur: Wer kehrt dann die Straße, holt den Müll ab und stellt sich an die Produktionsbänder? Die Kinder der intelligenten Frauen?
Ausgewählte Artikel:
Süddeutsche – Dossier Thilo Sarrazin
Spiegel online – Die Mär von der vererbten Dummheit
Spiegel online – Dossier Sarrazin
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Anmerkung der Redaktion:
Vor dem Rosengarten demonstrierten etwa 50 Personen – die meisten folgten einem Aufruf von Bündnis90/Die Grünen, ebenfalls anwesend war Die Linke und die rechte Verbindung „Die Freiheit“ – rund 50 Beamte der Polizei waren im Einsatz. Die Demo verlief friedlich, bis auf „Beschimpfungen“ der Gegendemonstranten durch einen Vertreter von „Die Freiheit“.