Hemsbach, 02. Dezember 2015. (red/nh) Was passiert mit Kindern, die aus ihrer Heimat oder von Zuhause fliehen? Rund 6.500 unbegleitete minderjährige Ausländer sind in diesem Jahr nach Baden-Württemberg gekommen. Das Pilgerhaus Weinheim schafft 24 Plätze zur Betreuung auf dem ehemaligen Bauernhof „Schafhof“ in Hemsbach – als Zufluchtsort und neues Zuhause.
Von Naemi Hencke
Das Zuhause – ein Ort der Sicherheit. Beständigkeit. Zuhause ist da, wo Schutz ist. Menschen brauchen diesen sozialen, familiären Raum, um Vertrauen und Selbstsicherheit zu entwickeln. Insbesondere Kinder.
Für manchen Kinder wird erst ein „Heim“ ein Zuhause.
Wenn das eigene Zuhause kein sicherer Ort ist
Es gibt viele Gründe, warum Kinder auf sich allein gestellt aus ihrem gewohnten Umfeld fliehen. Manche Eltern schicken ihre Kinder fort, in der Hoffnung, dass es ihnen an einem anderen Ort besser gehen könnte. Weil Kriege wüten oder die wirtschaftliche Not keinen anderen Ausweg kennt. Laut Zahlen der Diakonie ist fast die Hälfte der weltweiten Flüchtlinge minderjährig.
Einer Schätzung des Landratsamts Rhein-Neckar-Kreis zufolge sollen bis Ende 2016 etwa 580 unbegleitete minderjährige Ausländer im Rhein-Neckar-Kreis angekommen sein. Wahrscheinlich werden es sogar mehr sein – die Prognosen werden zur Zeit häufig nach oben korrigiert.
Einige Eltern vergessen, dass ihre Kinder Schützlinge sind, für die sie Verantwortung und Sorge tragen müssen. Andere vergessen sich dazu noch selbst. Die Kinder müssen physische und psychologische Gewalt aushalten.
Im Jahr 2014 verzeichnete das Bundeskriminalamt insgesamt 4.710 erfasste Fälle von Misshandlung Schutzbefohlener in Deutschland. Darunter 3.649 bekannt gewordene Fälle von Kindesmisshandlung (verurteit nach § 225 StGB). Die Gesamtzahl der Opfer zählt 4.233 Fälle, wobei von einer sehr hohen Dunkelzimmer auszugehen ist: Die Verbrechen werden meistens Zuhause verübt und es gibt keine Zeugen. Die Opfer sind zu jung, als dass sie eine Anzeige aufgeben könnten. Oder sie werden eingeschüchtert.
Eins ist definitiv unbestreitbar: Die Auswirkungen solcher Erfahrungen prägen die Betroffenen oft ein Leben lang.
Ein neues Zuhause finden
Der Schafhof in Hemsbach war lange Zeit das Zuhause einer Großfamile. Heute ist er vor allem Zuhause für Jugendliche, die aus den unterschiedlichsten Gründen aus ihren Familien und Heimaten geflüchtet sind.
Neben dem großen Engagement der Mitarbeiter des „Pilgerhauses“ hat auch die kontinuierliche Mithilfe der Stadt Hemsbach und die finanzielle Förderung der Stiftung „Wohnhilfe“ das Projekt „Schafhof“ möglich gemacht.
Dieses aus dem Jahr 1847 stammende Gebäudeensemble war ursprünglich ein historischer Bauernhof. Heute beheimatet es eine stationäre Jugendhilfeeinrichtung des gemeinnützigen Vereins „Pilgerhaus Weinheim“.
Seit Oktober 2015 wohnen hier 24 unbegleitete minderjährige Ausländer, kurz auch UMAs genannt. Aber auf diesem Hof stehen allen Kindern und Jugendlichen die Türen offen – ganz gleich aus welchen Gründen und woher sie kommen. Tag und Nacht kümmern sich 13 Mitarbeiter um die Kinder. Jedes hat ein eigenes Bett in einem Einzel- oder Doppelzimmer und einen eigenen Schlüssel. 4 dieser Plätze sind für spontane Inobhutnahmen reserviert.
Uwe Gerbich-Demmer, Vorstand des Pilgerhaus Weinheim, erzählt, er habe einige Zeit nach einem geeigneten und außenliegenden Objekt für diese „besonderen“ Kinder gesucht. Durch einen Zufall sei er auf den ehemaligen Bauernhof aufmerksam gemacht worden:
Ich war sofort begeistert, als ich das erste Mal auf dem Schafhof war. Es ist einfach ein schöner Ort. Und perfekt für Kinder.
Sicherheit und Integration
Zunächst sei es wichtig, die meist aus Syrien, Afghanistan und Gambia stammenden Kinder möglichst behutsam an ihr neues Umfeld zu gewöhnen. Das wichtigste Ziel sei, dass sie in die Schule gehen und möglichst bald Deutsch lernen, da die Sprache zu den wichtigsten Kompetenzen zählt, um eine schnelle Eingliederung zu ermöglichen.
Die gesellschaftliche Integration der Jugendlichen ist das nächste wichtigste Ziel. Es wird angestrebt, dass sie die Schule abschliessen und hiernach möglichst in einem fließenden Übergang einen Job oder eine Ausbildung finden.
Dies sei der schwierigste Schritt für unbegleitete minderjährige Ausländer, denn die Konkurrenz sei natürlich groß. Und die Ausbildungsstellen oft schon mit einem Jahr Vorlauf vergeben. Es gäbe zwar spezielle Ausbildungstellen für UMAs, so Herr Gerbich-Demmer, diese seien aber sehr rar. Zudem können es sich viele mittelständige Handwerksbetriebe nicht leisten, Auszubildene anzustellen, die Grundkompetenzen erst noch erlernen müssten. Darum seien die Erfolgsaussichten, einen geeigneten Arbeitsplatz zu finden wesentlich besser, je länger vorher Zeit war, die Jugendlichen auf diesen Schritt vorzubereiten.
Überlebenskompetenzen
Man darf nicht vergessen, so Uwe Gerbich-Demmer, „dass die Kinder, die zu uns kommen, sehr starke und besondere Kompetenzen mitbringen:
Diese Kinder haben ohne Jugendhilfe überlebt. Manche waren zwei Jahre auf der Flucht. Jedes dieser Kinder hat Kompetenzen entwickelt, in dieser Welt zu überleben.
Das sind nur eben nicht die, die allgemein-gesellschaftlich konform sind. Im Flur des Hauptgebäudes des Schafhofs hängt ein „Regelblatt“, übersetzt in fünf Sprachen und bebildert. „Respekt“, „Gewaltfreiheit“, „Toleranz“ und „Gleichheit“ seien die vier wichtigsten, erklärt Uwe Gerbich-Demmer. Diese Werte und Normen seien der minimalste Kontext, auf den sich hier ausnahmslos alle einigen müssten.
Konfliktvermeidung
Um Sicherheit und Ruhe zu schaffen, sei es von besonderer Bedeutung, dass das Haus nicht „überbelegt“ wird. Maximal 24 Personen nimmt der Schafhof auf.
Man könne sicherlich mehr Räume schaffen, aber je weniger Platz und Ruheorte vorhanden wären, desto wahrscheinlicher würde es zu Konflikten kommen, sagt Herr Gerbich-Demmer.
Die drei Gruppen, die zur Zeit auf dem Schafhof wohnen, würden sehr gut miteinander auskommen – aber eins sei doch auch klar: Die Gruppenstrukturen der Jugendlichen seien die gleichen, wie die in jeder anderen Gruppe auch. Der eine ist eher ein Mitläufer, der andere übernimmt – im besten Fall – Verantwortung.
Wie sieht die Zukunft dieser Kinder aus?
Je früher sie in eine Jugendhilfeeinrichtung kommen, desto besserer seien die Chancen, dass sie mit Erreichen der Volljährigkeit Anschluss finden und einen festen Arbeitsplatz und/oder Asyl bekommen.
Herr Gerbich-Demmer schätzt, dass circa 80 Prozent der Jugendlichen einen Asylantrag stellen. Doch seien circa 23.000 Asylanträge im Rückstand, so Gerbich-Demmer. Der Zeitmangel und der Mitarbeitermangel sei hierfür verantwortlich.
Es würde sich natürlich immer auch die Frage stellen, was die Kinder selbst wollen. Manche möchten mit 18 Jahren zurück in die Heimat, zurück nach Hause. „Wir sind dazu da, Wege und Möglichkeiten aufzuzeigen.“
Doch bis es soweit ist, haben die Bewohner des Schafhofs noch eines vor: Auf der rund 14.000 Quadratmeter großen Hofanlage sollen – sobald es wieder etwas wärmer wird – eine Feuerstelle, ein Fussballfeld und ein Gemüsegarten entstehen. Zudem sollen allerlei Tiere, wie beispielsweise Hühner und Pferde therapeutisch eingesetzt werden. Die hofeigene Kapelle würde sich für das musiktherapeutische Angebot anbieten.
Vertrauen, Gemeinschaft, Zuversicht – die Kinder sollen hier Zuhause erfahren, auf das sie sich verlassen können. Leider geht das hier, an diesem Ort, nur auf bestimmte Zeit – aber das ist zumindest ein guter Anfang.