Stuttgart, 02. Mai 2016. (red/ms) Seit heute steht der erste Entwurf für einen Koalitionsvertrag zwischen den Grünen und der CDU Baden-Württemberg fest. Das Werk umfasst 140 Seiten und umfangreiche ideologische Ausführungen. Bei vielen Versprechen fallen die Formulierungen vergleichsweise vage aus und lassen großen Freiraum zur Interpretation. Konkrete Zahlen werden nur in Ausnahmefällen gennant. Dennoch gibt es einige Überraschungen – zum Beispiel, wie gut die beiden Parteien bereits mit einander auszukommen scheinen.
Von Minh Schredle
Die gemeinsame Stärke sei es, Bewährtes zu erhalten, und mutig neue Wege zu gehen, heißt es gleich zu Beginn im Entwurf. Das habe Baden-Württemberg “zum führenden Innovationsland in Europa gemacht”:
In dieser Tradition haben sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die Christlich Demokratische Union entschlossen, in der 16. Legislaturperiode des Landtags gemeinsam eine Regierung zu bilden. Für Baden-Württemberg.
Nur einen Absatz später wird schließlich klar betont: “Diese Koalition war nicht unser erklärtes Ziel.” Doch man begreife das Wahlergebnis als Auftrag, “auf Basis einer soliden Mehrheit im Parlament eine handlungsfähige Landesregierung zu bilden.”
Liebesgrüße an die SPD
Offenbar sind die inhaltlichen Schnittmengen zwischen Grünen und Schwarzen – zumindest in Baden-Württemberg – doch größer, als gemeinhin angenommen wurde – denn eine Formulierung fällt besonders ins Auge:
Im Land der Tüftler ist aus dem Antrieb, etwas Neues zu schaffen, schon viel Richtungsweisendes entstanden. In diesem Geist haben wir unsere Koalitionsverhandlungen geführt.
Wie das wohl in Berlin aufgenommen wird? Was denkt der Rest der Republik? Grün-schwarz wird zum Stand 02. Mai 2016 in Baden-Württemberg als potenziell richtungsweisend eingeschätzt.
Erfolgreiche Kompromissfindung
Der Entwurf zum Koalitionsvertrags, über den nun die Mitglieder von CDU und Grünen bei den nächsten Landesparteitagen abstimmen werden, umfasst 140 Seiten. Beide Verhandlungspartner haben Kompromissbereitschaft gezeigt – insbesondere bei den Themenkomplexen Bildung und Sicherheit.
Die Polizei soll um 1.500 Stellen aufgestockt werden, außerdem wolle man ein “Stellenpool für freiwillig verlängernde Bedienstete” einrichten, um Personalmangel zu kompensieren. Zudem werde “angestrebt, den Überstundenberg bei der Polizei abzubauen.”
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Die CDU konnte sich mit der Forderung durchsetzen, die Bodycam auch in Baden-Württemberg einzuführen. Eine Kennzeichnungspflicht für Beamte wird es nicht geben.
Einigung beim großen Streitthema
Auch beim hochkritischen Thema Bildung konnte offenbar ein gemeinsamer Nenner gefunden werden. Im Vertragsentwurf heißt es dazu:
Kinder sind das Wertvollste, das wir haben. Ihnen die beste Bildung mit auf den Weg zu geben, hat für uns höchste Priorität. Ob Cleverle oder Träumerle, ob Überflieger oder Spätstarter: Jeder junge Mensch soll etwas aus seinem Leben machen und den für ihn besten Bildungsabschluss erreichen können.
Die verbindliche Grundschulempfehlung soll nicht wieder eingeführt werden, Inklusion wolle man weiter ausbauen. Nie wieder lerne man so viel und so schnell wie in den ersten Lebensjahren. Damit alle Kinder die gleichen Startchancen bekommen könnten, werde man deshalb die frühkindliche Bildung stärken.
Das hohe Niveau baden-württembergischer Gymnasien und Realschulen wolle man bewahren und weiter entwickeln – auf diese Formulierung dürfte insbesondere die CDU Wert gelegt haben, die das mehrgliedrige Schulsystem durch die vermeintliche Bevorzugung der unter grün-rot neu eingeführten Gemeinschaftsschule bedroht sah.
Was wird aus der Gemeinschaftsschule?
Die Gemeinschaftsschulen selbst würden zwar “weiter nach ihrem pädagogischen Konzept arbeiten” – allerdings soll der Ausbau der Schulart offenbar nicht mehr ansatzweise mit dem gleichen Tempo vorangetrieben werden, wie unter grün-rot. Im Vertragsentwurf heißt es:
Die Koalitionspartner gehen davon aus, dass bis zum Ende dieser Legislaturperiode an nicht mehr als 10 Standorten Schülerinnen und Schüler an den Oberstufen der Gemeinschaftsschule unterrichtet werden.
Damit wird die Oberstufe an der Gemeinschaftsschule wohl eher die Ausnahme bleiben.
Religion bleibt an den Schulen – auch der Islam
Unmissverständlich wird zum Religionsunterricht ausgeführt:
Der bekenntnisgebundene Religionsunterricht hat an unseren Schulen in Baden-Württemberg seinen festen Platz und ist ordentliches Unterrichtsfach. Wir werden das Modellprojekt zum islamischen Religionsunterricht weiter ausbauen.
Dieser solle “überall dort, wo er nachgefragt wird”, ermöglicht werden. Dabei werde angestrebt, aus dem Modellprojekt einen regulären islamischen Religionsunterricht zu entwickeln. Dazu wird festgelegt:
Die unterrichtenden Geistlichen und Lehrkräfte müssen an deutschen Universitäten und Hochschulen ausgebildet sein.
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Eine große Herausforderung, nicht nur in Bezug auf (Aus-)Bildung wird die Integration von über 100.000 Flüchtlingen darstellen, die im Lauf des vergangenen Jahres nach Baden-Württemberg gekommen sind. Insbesondere die Sprachförderung und die Integration in den Arbeitsmarkt sollen hier verbessert werden. Die grundsätzliche Positionierung klingt klar und eindeutig:
Das Recht auf Asyl für politisch Verfolgte ist kein Gnadenakt, sondern ein Grundrecht. Menschen Zuflucht zu gewähren, deren Heimatländer von Gewalt und Konflikten betroffen sind, ist ein Gebot der Humanität.
Das Land gewähre hier einen “Vertrauensvorschuss” und werde alle Ankömmlinge unterstützen. Dabei gelte der Leitsatz: Fördern und fordern.
Taschengeld wird abgeschafft
Daneben wird es allerdings weitere Einschränkungen im Asylrecht geben: Das so genannte Taschengeld soll “in der Erstaufnahmestelle künftig nicht mehr bar ausgezahlt, sondern mit Hilfe einer Sachleistungskarte gewährleistet werden”. Diese werde monatlich aufgeladen, die Nutzung soll räumlich begrenzt werden. Explizit wird bestimmt:
Es erfolgt keine Auszahlung von Barbeträgen, eine Übertragung von Beträgen am Monatsende oder an andere Nutzer.
Weiterhin werden gute Absichten bekräftigt: Eine nachhaltige Flüchtlingspolitik fange nicht erst an unseren Grenzen an, sondern in den Herkunftsländern:
Es ist wichtig, die Ursachen zu bekämpfen, weshalb Menschen fliehen. Wir unterstützen daher alle Bemühungen, um die fragile Lage in vielen Herkunftsländern zu stabilisieren. Wir halten es für notwendig, den Menschen in den Flüchtlingslagern eine Perspektive zu geben.
Das klingt sehr idealistisch – und reichlich unrealistisch: Wie sollen denn bitte “alle Bemühungen” unterstützt werden? Als Redaktion werden wir in jedem Fall überprüfen, welche Anstrengungen seitens der Landesregierung in den kommenden Jahren für die Umsetzung dieses Versprechens unternommen werden.
Große Ankündigungen
Insgesamt sind einige Vorhaben mindestens ambitioniert. Darunter etwa folgende:
Wir wollen die Schuldenbremse in der Landesverfassung verankern.
Wir werden Baden-Württemberg zur dynamischsten Gründerregion Europas machen.
Die Koalition verpflichtet sich, strukturelle Einsparungen in Höhe von rund 1,8 Milliarden Euro in der Endstufe bis 2020 zu realisieren.
Wir machen Baden-Württemberg zum sichersten Bundesland, indem wir Kriminalität konsequent bekämpfen und den öffentlichen Raum schützen.
Baden-Württemberg ist ein wirtschaftsstarkes, aber ressourcenarmes Land. Deshalb wollen wir zum europaweiten Vorreiter in Sachen Ressourceneffizienz werden.
Oder:
Wir prüfen in enger Abstimmung mit den Fraktionen des Landtags, die Einführung eines öffentlich einsehbaren Lobbyregisters, in das sich alle Interessengruppen und -personen, die von Landtag und Regierung gehört werden wollen, eintragen müssen.
Sollte der Koalitionsvertrag so beschlossen werden, wird sich die neue Landesregierung an diesen Aussagen messen lassen müssen.
Der noch stellvertretende Ministerpräsident Dr. Nils Schmid, dessen SPD mit 12,68 Prozent nur noch viertgrößte Fraktion ist und künftig wieder Opposition, hat seine Meinung zum Entwurf via Facebook bereits kund getan:
Der heute vorgestellte grün-schwarze Koalitionsvertrag ist ohne jede Ambition, ohne Esprit, ohne eine übergreifende Idee für unser Land. Es ist ein Vertrag der faulen Kompromisse!