Rhein-Neckar, 31. August 2016. (red/pro) Ein großes Problem bei der Flüchtlingskrise ist, dass die Flüchtlinge nur als Masse wahrgenommen werden. Hinter dem Wort Flüchtlinge steht jeweils ein Mensch. Es sind eine Million und mehr einzelne Menschen und Schicksale. Es wird vor allem über sie und viel zu wenig mit ihnen gesprochen. In den Lagern werden sie abgeschottet und draußen sind sie zu viele, um allesamt betreut und begleitet zu werden. Ein Gespräch vor einem Supermarkt.
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Von Hardy Prothmann
Die meisten unserer Leser/innen wissen, dass ich als Chefredakteur immer wieder und gerne für meine Mitarbeiter koche. Dazu muss ich einkaufen gehen. Heute Abend wieder. Mit fällt auf, dass in einem Supermarkt seit einigen Wochen vermehrt dunkelhäutige Menschen anzutreffen sind. Ich bin fertig mit dem Einkauf, schließe das Auto auf, zwei sehr “schwarze” Männer kommen aus dem Geschäft. Ich habe Zeit. Ich schließe wieder ab und gehe auf die Männer zu.
Good evening. Excuse me. My name is Hardy. I am a journalist. I have often reported about refugees. Are you refugees? May I ask you some questions? I’m not asking for your names. I am just interested in your situation. Can we talk about it?
Sie bestätigen das. Die beiden, Mitte zwanzig, kommen aus Nigeria. Christen seien sie. Sie haben sich erst in Deutschland kennengelernt. Sind etwa seit zwei Monaten in Deutschland und seit zwei Wochen nach Karlsruhe auf Spinelli untergebracht.
Es geht schlecht und gut
Wie geht es Ihnen? Nicht gut, ist die Antwort. Warum?, frage ich. Sie wissen gar nichts über Mannheim. Wie es für sie weitergeht. Die Tage sind lang und es gibt nichts zu tun für sie. Ihre Anträge haben sie gestellt. Jeden Tag haben sie eineinhalb Stunden Sprachunterricht. Das Essen schmeckt nicht. Sie vertragen es nicht und bekommen Durchfall. Es gibt oft Nudeln. Aber Nudeln sind nicht ihr Essen, sie sind Reis gewohnt.
Der eine sagt:
Mir geht es schlecht und gut. Ich bin so froh in Sicherheit zu sein. Aber in meinem Kopf geht es durcheinander. Ich bin vor dem Krieg in Nigeria geflohen. Das war alles so schrecklich. Das geht mir nicht aus dem Kopf. Immer und immer wieder kommen die Gedanken und ich versuche, mich zu beruhigen. Ich ziehe mich auf mein Zimmer zurück. Die Zeit ist so lang. Ich trinke dann auch Bier, um zu vergessen. Hier habe ich keine Angst. Niemand bedroht mich. Aber ich fühle mich nicht gut. Ich bin mit dem Flugzeug nach Italien gekommen. Meine Familie habe ich dort verloren. Wir wurden getrennt und ich weiß nicht, wo die anderen sind. Ich habe keine Telefonnummern, weil wir keine Sim-Karten hatten. Die habe ich erst nach der Trennung gekauft. Das Geld, was wir bekommen, reicht nicht, weil ich mir anderes Essen kaufe als ich im Lager bekomme, weil ich das nicht vertrage. Ich bin so durcheinander.
Der andere sagt:
Ich bin über Libyen gekommen. Das war schrecklich. Fast schrecklicher als in Nigeria. Ich war vier Monate im Gefängnis. Einen Freund von mir haben sie vor meinen Augen erschossen. Dort wird jeder einfach so abgeknallt. Ich hatte Glück, weil mir jemand von einer Menschenrechtsorganisation geholfen hat. Die haben mich auch auf das Boot gebracht. Dafür habe ich nichts bezahlt. Ich hatte ja auch nichts mehr. Die haben mir das Leben gerettet. Hier weiß ich nichts. Wir bekommen keine Informationen. Ich kenne niemanden. Und ich weiß nicht, wie es weitergeht. Aber ich bin froh, dass ich hier sicher bin.
Auf Spinelli sei es viel besser als in Karlsruhe von der Unterbringung her. Im Lager hätten sie Kontakt zum Sicherheitspersonal und zu staatlichen Mitarbeitern. Zu ehrenamtlichen Mitarbeitern gibt es keinen Kontakt. Sie würden gerne etwas arbeiten – alleine, um die Zeit zu verbringen. Das Warten sei fürchterlich. Ab und zu gibt es Stress. Sie versuchten sich da rauszuhalten und gingen auf ihre Zimmer. Auch unter den Flüchtlingen gebe es wenig Kontakte – es sei schwierig, sich zu verständigen.
Sicherheit als Ziel
Immer wieder betonen beide, dass sie froh seien, in Deutschland zu sein:
Here we are safe. That is so good.
Ich erkläre den beiden, dass sie dringend die deutsche Sprache lernen müssen und versuchen sollten, irgendeine Ausbildung für einen Beruf zu absolvieren. Und dass sie sich auf eine lange Zeit vorbereiten müssen, für ein “normales” Leben. Drei, vier, fünf Jahre werde das mindestens dauern. So lange?, fragen sie.
Beide erwidern, dass sie sich ein normales Leben gerne wünschen, aber niemals gedacht hätten, dass alles so lange dauert. Die Bürokratie in Deutschland kennen sie nicht von Nigeria. Alles ist hier anders. “Zuhause” kann man sich anbieten und Geld verdienen. Hier dürfe man nichts tun.
Zum Ende des Gesprächs bitten Sie mich um eine Zigarette. Ich schenke ihnen meine Schachtel – eigentlich mache ich das prinzipiell nicht, weil ich niemanden auf die Idee bringen will, dass das alle so machen. Sie haben aber nicht gebettelt und wirkten nicht so, also wären sie auf etwas aus. Egal für dieses Mal.
Was kann man glauben?
Als ich ins Auto einsteigen will, rufen sie mich nochmal, wollen noch etwas sagen. Ich gehe wieder zu Ihnen:
You are the first person who talked to us. Thank you so much.
Die beiden Männer sind rabenschwarz. Beide tragen Kinnbärte. Sind sie vielleicht doch keine Christen? Beide haben zahlreiche Tätowierungen an den Armen. Im Islam sind Tätowierungen eigentlich nicht erlaubt. Beide rauchen. Beide haben Alkohol gekauft. Das kann alles und muss nichts heißen.
Das Gespräch war freundlich. Beide waren daran interessiert und waren trotz teils vorhandener Verständigungsschwierigkeiten bereit, weiter zu reden. Die freundliche Danksagung am Ende wirkte wie von Herzen. Sie kann aber auch die Strategie von Überlebenskämpfern sein – hey, das ist einer, der nett ist, den umgarnen wir.
Nach meinem Instinkt war das nicht der Fall. Ich habe die beiden angesprochen, nicht die beiden mich. An der Kasse hatte ich sie beobachtet. Sie redeten über Produkte in den Regalen – offenbar völlig ahnungslos, was diese sein könnten. Nach meinen beruflichen Erfahrungen beurteile ich das Gespräch als “zutreffend” – die Hand würde ich dafür nicht ins Feuer legen. Ich berichte die Situation, mit dem Hinweis, dass ich keine Möglichkeit der Verifizierung habe.
Journalismus ist ein Job, in dem man mit Menschen und für Menschen arbeitet. Nach 25 Jahren weiß ich viel über Menschen. Diese beiden “Schwarzafrikaner” hatten eine Plan. Weg aus der Heimat. Flucht vor Krieg und Gewalt.
Dieser Teil des Plans hat geklappt. Sie sind in Deutschland. Aber hier enden ihre Pläne. Sie haben keine. Niemand macht Pläne mit ihnen. Sie verbringen ihre Tage. Sie wissen nicht, was morgen sein wird oder übermorgen. Sie wissen, dass sie sicher sind. Aber mehr auch nicht.
Kann ich dem trauen, was die beiden mir erzählt haben? Klare Antwort: Nein. Ich fand die Aussagen glaubhaft, aber ich kann sie nicht prüfen. Warum schreibe ich diese Begegnung dann auf und teile sie unseren Leser/innen mit? Weil unser Journalismus kein Glaubensverkündung ist, sondern in Ausschnitten über unsere Gesellschaft berichtet und keine Glaubensbekenntnisse, sondern Fakten, Informationen und Eindrücke zur Meinungsbildung der Leser/innen übermittelt.
Wären diese beiden Männer Deutsche, müsste ich zu dem Schluss kommen, dass sie vor dem vollständigen Ruin und Aus stehen. Niemand wendet sich ihnen zu. Sie haben keine Ahnung, wie es weitergeht. Sie haben nichts, auf dem sie aufbauen können. Sie verstehen nichts in der neuen Welt, in die sie gekommen sind, um ihr Glück zu suchen, indem sie vor dem Unglück in der Heimat fliehen. Sie haben keinerlei sinnvolle Kontakte. Sie sind – volkstümlich gesprochen – am Arsch. Aber “safe”.
Ob sie Chancen haben, als Flüchtlinge anerkannt zu werden? Eher gering. Womöglich tauchen sie dann in die Illegalität ab, wie so viele andere. Hauptsache “safe”.
Tipp: Lesen Sie zum Thema Flüchtlinge und spontanen Gesprächen auch “Nice to meet you” und ganz anderen “Eindrücken”…
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