Mannheim/Rhein-Neckar, 01. März 2014. (red/jsc) Ragna Pitoll ist Schauspielerin. In eine Rolle zu schlüpfen, ist ihr Beruf. Eine Reise in den Iran verändert die Rolle zur Lebenswirklichkeit. Sechs Tage lang. Die Verkleidung in der Öffentlichkeit wird zur Selbstverständlichkeit. Das Theaterensemble Mannheim war im Januar zum ersten Mal bei dem Fadjr-Theater-Festival im Iran mit dabei und führte das Stück „Bernarda Albas Haus“ in der Inszenierung von Calixto Bieito auf. Die Reise und die Erfahrungen haben alles verändert: Das Stück, die Inszenierung, das Ensemble. Wer hätte gedacht, dass Verhüllungen zu Offenbarungen führen und Distanz zu Nähe? Im Gespräch schildert Ragna Pitoll ihre Eindrücke, die sie auch Wochen später noch bewegen.
Von Julia Schmitt
Rückblickend würden sich alle anders verhalten. Mehr Kraft zeigen. Mehr einfordern. Denn das Ensemble wurde abgeschottet. Geführt. Gesteuert. Auch auf der Bühne.
Die Eindrücke, die das Ensemble des Mannheimer Nationaltheaters bei seinem Aufenthalt im Iran gesammelt hat, lassen die Mitglieder nicht mehr los. So wie Ragna Pitoll. Die 49-Jähige Schauspielerin war eine von neun Frauen, die an zwei Abenden in Teheran beim Fadjr-Theaterfestival auf der Bühne standen. Von Kopf bis Fuß bedeckt – so wollte es das iranische Kulturministerium. Das war vor einem Monat. Aber noch immer beherrschen die dortigen Erlebnisse die Gesprächsrunden der Reisenden.
Ragna Pitoll sitzt mir gegenüber. In der Kantine des Nationaltheaters. Der schmale Holztisch lässt nicht viel Raum zwischen uns. Stimmengewirr, Frauen und Männer trinken Kaffee, Kinder hatten gerade eine Chorprobe und unterhalten sich lebhaft. Ragna Pitoll hat eine sehr angenehme Stimme, gut ausgebildet. Sie ist trotz der lauten Atmosphäre gut zu verstehen. Eine selbstbewusste Frau. Sympathische Ausstrahlung. Sie schildert mir ihre Eindrücke. Eindrücke, die so oder ähnlich alle Ensemble-Mitglieder, die vom 17. bis zum 23. Januar im Iran waren, gesammelt haben. Von den Technikern bis zu den Schneiderinnen. Denn für sie alle begann die Verwandlung schon vor Beginn der Reise.
Beobachter werden zu Beobachteten
Die Schauspielerin erzählt eindringlich, hält ständig Blickkontakt. Schon bei der Vorbereitung auf die Reise wurde den Teilnehmern klar, dass der Iran sehr anders ist als Deutschland:
Als erstes mussten neue Pässe her. Die Frauen brauchen ein Passfoto, auf dem sie ein Kopftuch tragen.
Eine Mitarbeiterin des Theaters ist Iranerin. Nach und nach erklärt sie dem Team die „richtigen“ Umgangsformen im Iran. Eine ist, dass sich Frauen und Männer in der Öffentlichkeit unter gar keinen Umständen berühren dürfen.
Mit der Reise beginnt für das Mannheimer Ensemble das Schauspiel schon vor der Aufführung. Die Verkleidung beginnt im Flugzeug. „Als wir in der Luft die Grenze überflogen, wurde über die Lautsprecher durchgesagt, dass wir nun unser Kopftuch aufziehen müssen.“ Die Frauen haben keine Wahl. Hoch oben über dem Iran, verhüllen sie ihren Kopf. Ab jetzt ist vieles anders.
Ragna Pitoll studierte an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, spielte unter anderem am Volkstheater Rostock, am Staatstheater Wiesbaden und hatte mehrere Filmrollen. Von dem iranischen Theaterfestival hatte sie noch nicht gehört. „Der Kontakt kam über einen iranischen Regisseur zustande, der bei den Schillertagen mit seiner Gruppe zu Gast war“, erinnert sie sich an die Begegnung mit ihm. In der Alten Feuerwache zeigte er „Die Räuber“. Man verstand sich und tauschte sich mit dem Iraner, der in Köln lebt, aus. „Wir wurden eingeladen, weil es Versuche gibt, sich dem Westen gegenüber zu öffnen“, sagt sie.
Beim iranischen Theater-Festival waren die Mannheimer nicht die einzigen Europäer. Unter anderem trat dort eine Theatergruppe aus Polen auf. Dass sich die Künstler untereinander austauschen, war jedoch nicht selbstverständlich. „Hätten wir sie nicht wenigstens beim Frühstück in unserem Hotel angesprochen, hätten wir keinerlei Kontakt mit ihnen gehabt“, beschreibt die Schauspielerin die ungewohnte Situation.
Revolutionen
Denkt man in Europa an ein „Theaterfestival“, assoziiert man dies mit „Austausch“ und „Begegnung“. Das haben die Mannheimer beim Fadjr-Festival jedoch nicht erlebt. Der Austausch mit anderen Künstlern, insbesondere mit iranischen, blieb aus. Ihre Gastgeber schildert Frau Pitoll als sehr höflich, aber entweder verstanden sie die Wünsche des Ensembles nicht oder sie wollten sie nicht verstehen. Nur auf wiederholtes Bitten konnte die Truppe zwei andere Vorstellungen besuchen. Jetzt, nach den Erlebnissen, will Ragna Pitoll mutiger sein: „Ich denke, man hätte noch ein bisschen mehr einfordern sollen. Zum Beispiel ein Treffen mit einer iranischen Theatergruppe. Beim nächsten Mal machen wir das.“
Die wichtigste Frage, die das Mannheimer Ensemble vor ihrer Reise zu beantworten hatte, war eine künstlerische. Welches Stück sollten sie dem iranischen Publikum darbieten? Zwei standen zur Auswahl. „Die Jungfrau von Orleans“ oder „Bernarda Albas Haus“. Die Entscheidung fiel auf das Drama des spanischen Autors Frederico García Lorca in der Inszenierung von Calixto Bieito. Für Ragna Pitoll, die die älteste Tochter Angustias spielte, war es genau die richtige Entscheidung:
Das Thema ist die ‚gescheiterte Revolution‘. Die hängt sich am Ende auf.
Sie sagt den Satz, schweigt und lässt ihn wirken. Ich spüre, wie intensiv sie über Zusammenhang nachgedacht hat. Wie das Stück, die Umstände und ihre Erlebnisse mit einem Mal zusammengingen. Und ich spüre, wie auch mich das bewegt – obwohl ich es nur durch die Erzählung erleben kann.
Das 1936 geschriebene dreiaktige Drama handelt von der 60-jährigen Alba, die nach dem Tod ihres Mannes das Haus verschließt und ihren Töchtern eine achtjährige Trauer auferlegt. Während die Töchter sich nach dem Leben draußen verzehren, zerbricht die Fassade.
Schnell wurde klar, dass die Mannheimer das Stück nicht so, wie sie es zu Hause aufgeführt hatten, in Teheran spielen konnten. Doch so, wie sie es im Iran spielen müssen, gewinnt es kurioserweise an Authentizität. Die konservative iranische Gesellschaft erzwingt geradezu die Wiederentdeckung der Originalversion Lorcas. Über das konservative Spanien aus den 1930-Jahren. Kopftuch, strenge Regeln…
Dadurch waren wir plötzlich viel näher am Original und der Sprengstoff der Worte wurde uns bewusster.
Ragna Pitolls dunkle Augen schauen mich eindringlich an, ihr Oberkörper ist über den Tisch nach vorne gebeugt – sie will, dass ich alles verstehe. Was für eine Reise. Was für Erfahrungen. Die Reise in die Fremde, in ein anderes Leben bringt die Künstler näher an den Text als je zuvor. Spielen sie ihn noch? Oder spielt er mit ihnen? Oder leben sie ihn auf ungeahnte Weise?
Die Dimension des Stückes wird eine andere. Durch ihre Verwandlung auf der Bühne – sowie auf den Straßen Teherans – wird den Schauspielern bewusst, was Lorca 1936 in seinem eindrücklichen Stück schildert. „Die Intensität des Stücks ist uns klarer geworden.“ Für die Mannheimer Inszenierung wurde der Text angepasst, Sätze wurden gestrichen. Beispielsweise: „Das Kopftuch bleibt!“ Ragna Pitoll schleudert mir vehement den Satz entgegen. Ich zucke zusammen. Natürlich darf gerade dieser Satz bei der Inszenierung im Iran nicht fehlen.
Das sind Sätze, die einschlagen.
Sätze, die, wenn man sie nicht nur spielt, sondern erlebt, für die Darstellerinnen auf der Bühne plötzlich eine ungeahnte Spannung erzeugen. „Wir haben tatsächlich Gänsehaut bekommen.“
Verhüllungen und Gänsehaut
Das Theaterstück haben sie in deutscher Sprache gespielt. Eine Studentin hat den Text auf Farsi übersetzt – dieser lief dann für die Zuschauer auf einer Anzeigetafel synchron mit. Inwiefern die Textstellen jedoch geändert wurden – das wissen die Schauspieler nicht. Haben die Frauen im Publikum ebenfalls eine Gänsehaut bekommen, als Nicole Heesters als „Bernarda“ den Satz „Das Kopftuch bleibt!“ über die Bühne schmetterte?
Die wohl größte Veränderung betraf die Kleidung der Darstellerinnen. Selbst die Artistin, die beim Stück im Hintergrund Kunststücke an einem Seil vollbringt, musste sich den strengen Regularien unterziehen. Statt ihrer fleischfarbenen Wäsche, trug sie einen schwarzen Ganzkörperanzug mit Pumphose. Einen Frauenkörper betonen, das ist nicht erlaubt. Für Schauspieler ist es ganz normal, sich zu verkleiden. Wird es aber nicht absurd, wenn eine Verkleidung zur Norm wird? Ragna Pitoll lacht, als sie darüber philosophiert. Die Erlebnisse bewegen sie immer noch.
Bevor sie das Stück öffentlich zeigen durften, mussten sie eine Generalprobe vor Vertretern des iranischen Kulturministeriums aufführen.
Verantwortliche haben das Stück angesehen und uns gesagt, was geht und was wir so nicht zeigen können,
erinnert sich die „Angustias“. „Zwei Schauspielerinnen kämpfen im Stück miteinander und rollen dabei auf dem Boden herum. Das war ihnen zu sexuell.“ Also wurde auch das geändert. Die Schauspielerinnen kämpften nun „auf Entfernung“, sodass sich nur ihre Hände berührten. Während Ragna Pitoll lebhaft von ihren Erlebnissen erzählt, beugt sie sich vor und kommt mir ganz nah.
Selbst nackte Knöchel wirken zu verführerisch
Zudem zeigten die Frauen zuviel Haut. „Wir brauchten noch schwarze Strumpfhosen, weil man unsere Knöchel teilweise gesehen hat.“ Mit den Kopftüchern, langen Gewändern und den Strumpfhosen waren sie schließlich von Kopf bis Fuß verhüllt. Das Hochziehen von Kleider und Reiben von nackten Schenkeln? Vollkommen undenkbar. „Wahrscheinlich waren wir auf der Bühne mehr verhüllt als iranische Schauspieler“, wundert sie sich. Für das Mannheimer Team zählte nur eines: Dass das Stück überhaupt stattfinden konnte.
Ihre Aufführung hatte das Ensemble im großen Stadttheater Teheran: „Es saßen etwa 1.000 Leute im Publikum.“ Die Gäste applaudieren. Die Schauspieler verlassen die Bühne, um sie erneut einzeln zu betreten. Doch die Gäste sind schon im Aufbruch. Die Schauspieler bleiben verdattert zurück. Geht das Licht an, verlässt man im Iran das Theater. „Am nächsten Tag sind wir dann auf der Bühne geblieben“, erklärt Ragna Pitoll mit fester Stimme. Ein weiterer Unterschied war die Applausstärke – die sie noch im Nachhinein überlegen lässt:
Es gab immer Standing Ovations. So ist es aber gar nicht abschätzbar, ob es den Menschen wirklich gefallen hat.
Das Schauspiel außerhalb der Bühne
Auch abseits der Bühne sammelt Ragna Pitoll prägende Eindrücke. Die iranische Hauptstadt ist nicht mit europäischen Städten zu vergleichen. Allein die Größe. 16 Millionen Menschen. Zusätzlich pendeln täglich 2,5 Millionen zur Arbeit. Die Umweltbelastung ist enorm. „Über der ganzen Stadt hängt eine Dunstglocke, die den Blick auf den Himmel oder die nahen Berge unmöglich macht.“ Auch das eine Art Schleier. Von der jahrhundertealten Hochkultur des Landes gibt es nichts zu sehen für die neugierigen Deutschen. „Es gibt keinen Individualismus in der ganzen Stadt“, erzählt sie und schüttelt den Kopf. Vor ihrer Reise hatte sie immer lebhafte Basare vor Augen, Trubel, sie mittendrin.
Ragna Pitoll und eine Kollegin wollen unbedingt auf den orientalischen Teppichmarkt – und landen im iranischen Museum für Folter: „Sie dachten wohl, dass wir so etwas sehen sollten.“ Grausamkeiten des Geheimdienstes unter dem Schah sind hier dokumentiert. Silikonabgüsse der Folteropfer werden ausgestellt. Trickfilme, die die Gräuel zeigen, laufen auf Monitoren. Rgana Pitoll zeigt sich noch heute von diesen Eindrücken sichtlich erschüttert: „Ich hatte danach Albträume.“
Ein kleines Stück Freiheit
Selbst im Museum durften sich Männer und Frauen nicht im gleichen Raum aufhalten. Ein schwieriges Unterfangen – bei den kleinen Ausstellungsräumen. Doch dann kommt eine Einladung in die deutsche Botschaft. Und mit dieser eine Pause ohne Verkleidung:
In dem Moment, als wir durch das Tor auf das Gelände der Botschaft gefahren sind, haben wir uns alle das Kopftuch herabgerissen.
Sie strahlt. Ihre Augen blitzen. Mitten in Teheran ohne Kopftuch. Ein netter Abend, Gespräche und Gelächter mit Männern – das wirkt wie ein kleiner Triumph. Und doch ist es bizarr. Sie weiß, dass außerhalb der Botschaft alles anders ist. Und sie genießt die Auszeit.
Die erschwerten Bedingungen vor Ort haben alle Mitarbeiter des Theaters stärker zueinander gebracht. „Dass wir zur Flexibilität aufgerufen waren, hat das ganze Ensemble zusammengeschweißt.“ Die Enge bringt Techniker, Beleuchter und Schauspieler näher zusammen als üblich: „Wir hatten viele Gespräche, die man sonst nicht so führt.“
Beherrschende Eindrücke
Aus dem Iran sind die Mitglieder des Theaters mittlerweile zurück. „Es hat uns in jeder Hinsicht berührt, die gegensätzlichen Erfahrungen zu vereinen.“ Die Erfahrungen lassen sie anders auf den deutschen Alltag schauen: „Wenn man sechs Tage diesem Leben ausgesetzt ist, hat man plötzlich einen ganz anderen Respekt vor dem Leben hier. Ich bin froh, dass ich hier lebe.“
Auch, wenn hier nicht alles unproblematisch ist. Und auch, wenn es Anachronismen gibt, die ihr erst jetzt auffallen. Beispielsweise Vereine, die nur für Männer sind:
Früher dachte ich: Ist ja nicht so schlimm. Jetzt empfinde ich das als nicht mehr zeitgemäß.
Missen möchte sie die Erfahrungen im Iran und mit sich selbst nicht. Die Reise in die Ferne hat sie sich selbst näher gebracht.
Egal, ob die Schauspielerin wütend oder belustigt über ihre Erlebnisse spricht, wird eines deutlich: Die Faszination, die sie durchdringt. Ragna Pitoll ist neugierig geworden auf das Land:
Es ist etwas anderes, ob man daheim am Tisch sitzt und Dinge in den Nachrichten hört oder ob man dem selbst ausgesetzt ist.
Das Stück „Bernarda Albas Haus“ ist im Sommer 2014 wieder am Nationaltheater Mannheim zu sehen. In der iranischen Inszenierung vielleicht…? Reizvoll wäre es für Ragna Pitoll. Und das Ensemble denkt tatsächlich darüber nach. Dem Mannheimer Publikum wäre es zu wünschen, die Sprengkraft der Sätze zu spüren. Doch funktioniert das ohne die Reise in die Ferne? Man darf gespannt sein.
Anmerkung der Redaktion:
Das Gastspiel im Iran wurde durch die Unterstützung des Unternehmer-Ehepaares Bettina Schies und Klaus Korte sowie dem Gesundheitsunternehmen Roche möglich. Weitere Förderer waren die Goethe-Institute München und Teheran, die Kulturabteilung der deutschen Botschaft in Teheran, das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg sowie das Stadtmarketing Mannheim und das Kulturbüro der Metropolregion Rhein-Neckar.
Die Autorin Julia Schmitt (28) hat im Februar bei uns hospitiert. Die studierte Politikwissenschaftlerin und Klassische Archäologin hat im April 2013 bei der Main-Post in Würzburg ein Volontariat begonnen. Unsere Volontärin Lydia Dartsch war im Austausch in Würzburg. Deutschlandweit haben erstmals eine klassische Tageszeitung und ein „Blog“ bei der Journalistenausbildung in dieser Form kooperiert. Der Austausch ist zwischen den Chefredakteuren Michael Reinhard (Main-Post) und Hardy Prothmann (Rheinneckarblog) vereinbart worden, um die Zukunft des Lokaljournalismus mitzugestalten. Denn dieser unterliegt einem rasanten Wandel. Insbesondere der Lokaljournalismus spielt eine wesentliche Rolle für die Demokratie. Denn eine freie Gesellschaft ist ohne einen freien und kritischen Journalismus nicht vorstellbar.