Rhein-Neckar/Berlin/Paris, 01. Mai 2017. (red) Tom Strohschneider kritisiert einen “Konformismus der Mitte” – und bezeichnet insbesondere Agentur-Meldungen, die in großer Zahl verbreitet werden, als “diskurslenkende Marschmusik”. Weiter mahnt er an, dass offene Debatten eine differenzierte Sprache, statt Gleichmacherei benötigen. Als wir diesen Satz gelesen haben: “Kritik setzt voraus, dass sie ihren Gegenstand erst einmal zur Kenntnis nimmt”, war klar, dass wir Herrn Strohschneider für unsere Montagsgedanken gewinnen wollten. Er hat eingewilligt. Der Text ist erstmals am 23. April in “Neues Deutschland” erschienen.
Von Tom Strohschneider
Die Deutsche Presse-Agentur nennt sich »unabhängiger Dienstleister« und gehört zu den großen Inhalteproduzenten dieser Republik. Was die dpa tickert, melden viele Newsportale, auch das »nd«, und was die dpa an Nachrichten bringt, lesen sehr viele Menschen. Zum Beispiel so etwas: »Mit der Rechtspopulistin Marine Le Pen und dem Linksaußen-Politiker Jean-Luc Mélenchon stehen gleich zwei Europakritiker zur Wahl, deren Erfolg die EU in eine tiefe Krise stürzen dürfte.« Oder das: »Falls extreme Kandidaten wie Le Pen oder Mélenchon in die Stichwahl gelangen sollten, könnte die Euro-Währung unter Druck kommen, lautet die Erwartung an den Finanzmärkten.«
Wer jetzt noch immer nicht verstanden hat, was Märkte und offenbar auch die Deutsche Presse-Agentur erwarten, bekommt von letzterer noch einmal Nachhilfe: »Falls beide Anwärter schon in der ersten Runde scheitern sollten, wäre dies ein Signal, dass Populisten in Europa einzudämmen sind.« Und so meldete es sich schon durch die ganze Vorwahlzeit, natürlich nicht nur »unabhängig, zuverlässig und aktuell« als Nachricht der dpa, auch woanders wird gern dieselbe Erzählung bedient: »Rechts gleich links. Jede Form der EU-Kritik extremistisch. Alles Populisten.«
Für die aufgeklärte Linke ist dieser Dauersound ein Problem in dreifacher Hinsicht: Er schreibt erstens Positionen aus dem als akzeptabel geltenden Raum für politische Debatten heraus und versucht, die Öffentlichkeit auf einen Konformismus der Mitte festzulegen – es handelt sich um diskurslenkende Marschmusik nach der Melodie »There is No Alternative«.
Die solchen Herrschaftserzählungen eigene Gleichsetzung von links und rechts erschwert zweitens die notwendige Kritik an rechten oder nach rechts offenen Positionen, auch dann, wenn diese in linken Debatten zur Sprache kommen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil drittens durch Sprachschablonen wie den oben zitierten jede Differenzierung, jede Überlegung über Kategorien und Unterscheidungen verlorengeht, ja verhindert wird. Wer will schon über die Politik von jemandem diskutieren, die von vornherein als der rechtsradikalen Haltung vergleichbar beschrieben wird?
Und Inhalte? In der Festlegung auf einen Europäismus, der nur den Status quo kennt und alle denkbare Änderung daran für antieuropäisch hält, friert jede politische Debatte ein. Es ist doch ein himmelweiter Unterschied, ob die gegenwärtige EU-Politik unter Fuchtel des deutschen Exportnationalismus und der Austeritätsideologie mit ihrer in Demokratien übergreifenden Bürokratie abgelehnt wird – oder europäische Integration überhaupt.
Nicht nur linke Intellektuelle wie Didier Eribon haben kritisiert, dass Mélenchon hier ein Vorwurf gemacht wird, bei dem oft nicht einmal mehr mitgeteilt wird, was dessen europapolitische Forderungen denn konkret sind. Bei tagesschau.de, sicher keinem unwichtigen Nachrichtenmedium, bekommt man in einer Übernahme aus der Deutschen Presse-Agentur gerade noch den Satz »Mélenchon kritisierte die Brüsseler Politik mehrfach scharf« geliefert. Das haben andere auch schon getan, und auch andere fordern, ohne deshalb in den großen Populismus-Eintopf geworfen zu werden, eine deutliche Änderung der EU-Politik.
Und mal ehrlich: Wie viele andere Wege als den einer Neuverhandlung der EU-Verträge, deren gegenwärtige Fassung die aktuelle Brüssler Politik mitbestimmt, gibt es für einen Politikwechsel? Wo doch gerade en vogue ist, mehr Gerechtigkeit zu fordern. Ist die Forderung, eine Angleichung in Steuer- und Sozialfragen zu erreichen, wie es viele Experten fordern, und dies gegebenenfalls auch mit einer »Koalition der Willigen« in Europa umzusetzen, so völlig absurd? Und was hat das schon mit antieuropäisch zu tun?
Es ist doch überhaupt keine Frage, dass auch und gerade Mélenchon nicht außerhalb der Kritik stehen kann. »Ich mag weder seine nationalistischen Höhenflüge, noch seine wiederholten Beschwörungen des ›Vaterlandes‹ und seiner ›Größe‹«, sagt zum Beispiel Didier Eribon, hierzulande viel gefeierter Soziologe. Die linken Nachwuchsautoren Geoffroy de Lagasnerie und Schriftsteller Edouard Louis haben sich für Mélenchon ausgesprochen, ohne deshalb damit aufzuhören, Kritik zu üben. Louis etwa warnte zuletzt mehrfach davor, »Begriffe wie Nation, Identität, Heimat, Volk zu den zentralen Formeln der Debatte« werden zu lassen – etwa, in dem man sie übernimmt, wie es Mélenchon tut.
Die Linke, so Louis, brauche eigene Begriffe und Erzählungen. Deshalb ist der Anspruch von links an Mélenchon auch besonders hoch. Ob das Programm von Mélenchon dafür taugt, ist eine andere Frage. Kritik setzt voraus, dass sie ihren Gegenstand erst einmal zur Kenntnis nimmt. Zum Beispiel, unter welcher taktischen und strategischen Fahne eine Kandidatur gesellschaftspolitisch steht. Mélenchons Sprecherin Raquel Garrido hat das in einem ausführlichen Interview mit dem US-linken Magazin »Jacobin« dieser Tage recht ausführlich erklärt: die Idee einer sechsten Republik »für das Volk, durch das Volk«; die Ablehnung des politischen Systems als »Oligarchie«; den universellen »Patriotismus der Aufklärung«, die Bezugnahme auf den »humanistischen Populismus« von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau, ganz ähnlich wie bei Spaniens Linkspartei Podemos.
Dass Mélenchons Kandidatur ausdrücklich auf die Selbstbezeichnung »links« verzichtet, um besser »die Angewiderten« anzusprechen, lässt sich wie all das andere erst diskutieren und womöglich kritisieren, wenn man über die Beweggründe Bescheid weiß. Gleiches gilt für die wirtschaftspolitischen Ziele (hier ein Interview mit Mélenchons Berater Liêm Hoang-Ngoc dazu) oder den Europakurs. »Die heutigen Herausforderungen, etwa jene der Ökologie, betreffen den ganzen Planeten. Daher brauchen wir überstaatliche Antworten«, so hat es Garrido in »Jacobin« formuliert. »Aber die jüngste Erfahrung mit der EU zeigt, dass wir zuerst die Probleme mit unserer nationalen Oligarchie lösen müssen. Deshalb lehnen wir es ab, zu trennen zwischen den FreundInnen des liberalen Europa und denen, die austreten wollen. Das ist die Unterscheidung der extremen Rechten.« Oder einfacher formuliert: »Die extreme Rechte möchte die EU einfach zerstören, wir möchten den Menschen zeigen, was an ihr falsch läuft.«
Davon berichtet die oben zitierte Meldung nichts. Gar nichts. Sie vergibt stattdessen Plaketten. Gegen das Elend der Extremismusrhetorik, wie sie in den oben zitierten dpa-Rastern reproduziert wird, gibt es zum Glück Kritik – keineswegs nur und in verteidigender Haltung von links. »So wurde in Deutschland schon Sanders niedergemacht«, twitterte der FAZ-Kollege Patrick Bahners mit Blick auf die mediale Formel »Mélenchon = Extremist = Le Pen«.
Statt neutraler Bestimmung des Orts im politischen Spektrum, werde Abwertung betrieben. Das Label »Extremismus« konnotiere zudem »Gewaltbereitschaft, Fanatismus, Verbohrtheit«. »Vor allem wird nicht geguckt, welche politischen Vorschläge die Kandidaten wirklich vertreten«, hat der Finanzexperte Hermann-J. Tenhagen in der daraufhin ablaufenden Debatte bei dem Kurzmeldungsdienst beklagt. Dies heiße keineswegs, eine Meinung schon zu teilen, sondern sie erst einmal »verstehbar« zu machen. Das allerdings muss man wollen.
Zur Person:
Tom Strohschneider, Jahrgang 1974, ist nd-Chefredakteur. Nach einem Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Soziologie kam er mehr zufällig zum Journalismus. Er arbeitete unter anderem bei der Wochenzeitung “Der Freitag” und bei der “taz”. Zuletzt erschienen von ihm unter anderem: “Linke Mehrheit?” über Möglichkeiten und Grenzen von Rot-Rot-Grün sowie “What’s left?” über Europas Linke, den Rechtsruck und einen sozialistischen Kompromiss. Beide erschienen bei VSA.
Anm. d. Red.: Wir wissen, dass die “sozialistische Tageszeitung” “Neues Deutschland” in konservativen Kreisen teils als extremistisch eingestuft wird. Diese Beurteilung maßen wir uns nicht an – weil wir uns darüber keine Meinung gebildet haben. Dass die Zeitung stark links orientiert ist, ist mit Sicherheit zutreffend. Der vorliegende Text enthält eine hintergründige Sicht und eine straffe Argumentation, die wir für bedenkenswert halten, deswegen haben wir die Übernahme von uns aus angefragt. Es gibt zwischen dem Rheinneckarblog “Neues Deutschland” weder redaktionelle noch geschäftliche Verbindungen.
Unsere Kolumne Montagsgedanken greift Themen außerhalb des Terminkalenders auf – ob Kultur oder Politik, Wirtschaft oder Bildung, Weltweites oder Regionales, Sport oder Verkehr. Kurz gesagt: Alle Themen, die bewegen, sind erwünscht. Teils kommen die Texte aus der Redaktion – aber auch sehr gerne von Ihnen. Wenn Sie einen Vorschlag für Montagsgedanken haben, schreiben Sie bitte an redaktion (at) rheinneckarblog.de, Betreff: Montagsgedanken und umreißen uns kurz, wozu Sie einen Text in der Reihe veröffentlichen möchten. Natürlich fragen wir auch Persönlichkeiten und Experten an, ob sie nicht mal was für uns schreiben würden….