Rhein-Neckar/Hamburg/Berlin/Ankara, 30. März 2016. (red/pro) Seit Tagen echauffieren sich gewisse Medien und verlangen Genugtuung. Die deutsche Bundesregierung war aufgerufen, dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan mal ordentlich die Meinung zu sagen, weil dessen Verhalten gegenüber der Pressefreiheit nicht akzeptabel sei. Das geschah dann auch – wenngleich zögerlich und zurückhaltend. Der Grund: Es gibt schon so viele Missverständnisse, dass man jedes weitere fürchtet.
Kommentar: Hardy Prothmann
Mal ganz ehrlich – was wissen Sie über Recep Tayyip Erdogan? Aktuell vermutlich, dass die Satiresendung Extra3 in veräppelt hat und er daraufhin diplomatisch ausgerastet ist.
Und was wissen Sie über deutsche Medien, die deutsche Regierung? Viele Medien forderten “klare Ansagen” Richtung Türkei, die deutsche Regierung zögerte und heute gab es dann endlich eine gestotterte Reaktion auf der Bundespressekonferenz, dass die Türkei die Presse- und Meinungsfreiheit hier bei uns zu respektieren habe und man schon häufiger “unsere Standards” angemahnt habe.
Man durfte sich also mal wieder so richtig schön empören – das ist mittlerweile ein Volkssport in Deutschland.
Redet man mit Menschen, die sich einigermaßen mit der Türkei auskennen, dann erhält man auf die Frage, ob die mediale Berichterstattung in Deutschland über die Türkei von Kenntnis geprägt sei, nach kurzem Zögern die Antwort: “Eher nicht.”
Das Zögern der Politik hat Gründe – dort ist man total überfordert. Klar ist: Man braucht die Türkei. Klar ist aber auch: Da gibt es einen Staatspräsidenten, dem zunehmend die Sicherungen durchglühen. Aber einen anderen Verhandlungspartner gibt es nicht.
Wofür braucht man eigentlich die Türkei?, wird aktuell gerne gefragt. Als Handelspartner, als Nato-Drehkreuz und ganz dringlich als vorgelagerten Flüchtlingsgrenzzaun. Aber sicher nicht als europäischen Partner – da ist man sich nach dem jüngsten Durchdreher von Herrn Erdogan ziemlich sicher.
Wofür braucht man Europa?, fragen sich die Türken. Als Handelspartner, als militärischen Partner und ganz dringlich als Bezahler für jede Menge Konflikte an den Grenzen der Türkei, die ins Land wandern. Aber bitte ohne Einmischung in innere Angelegenheiten.
Es geht also um “Deals”, die nicht so ganz einfach sind. Und um Mentalitäten, die hier wie dort nur selten verstanden werden. Es geht um jede Menge Missverständnisse.
Haben Sie eine Meinung zum türkisch-kurdischen Konflikt? Ja? Lassen Sie mal die Ethnien weg und fragen sich: Welche Meinung habe ich zum Konflikt türkischer Staat vs. PKK? Merken Sie was? Schon ist die Perspektive eine andere – und es gibt noch viele andere Perspektiven.
Die Türkei ist ein sehr großes Land mit ungefähr derselben Einwohnerzahl wie sie Deutschland hat. Merken Sie was? Schon wird die Perspektive anders, wenn man sich nicht “den Türken”, sondern die türkischen Strukturdaten anschaut.
Die Außengrenzen der Türkei entscheiden sich enorm von denen Deutschlands. In Deutschland lebt man mindestens seit dem Ende des Kalten Krieges in Europa überwiegend sorgenlos, was “Konfliktherde” angeht und weil der Atomkrieg ausgeblieben ist, wähnt man sich in Sicherheit.
Was wissen Sie über die türkische “Volksseele” im Vergleich zur deutschen? Was wissen Sie über infrastrukturelle Großprojekte in der Türkei mehr als über Stuttgart21? Nichts? Dann sind Sie wenigstens zu sich selbst ehrlich.
Was wissen deutsche Medien über die Türkei? Möglicherweise etwas mehr als Sie wissen, aber nur möglicherweise.
In Deutschland gibt es rund 50.000 “hauptberufliche” Journalisten – in der Türkei ein paar Dutzend Korrespondenten. Kennen Sie sich in Deutschland gut aus? Wissen Sie alles über das Land? Nein? Wie wollen Sie dann etwas über die Türkei wissen – bei einem Verhältnis von 50.000 zu ein paar Dutzend?
Was wissen die Türken in der Türkei und die Türken in Deutschland über die Türkei? Sehr viel mehr – was individuelles Wissen angeht, über die Familien und Kontakte und die Sprachkompetenz. Aber was wissen die Türken wirklich über ihr Land? Vor Ort oder hier in Deutschland? Das, was sie über Medien vermittelt bekommen.
Die allermeisten Medien in der Türkei sind journalistisch in einem desolaten Zustand. Wie soll man sich also ein fundiertes Bild machen können?
In der Türkei gibt es immer weniger Pressefreiheit. Nicht nur politisch, sondern vor allem ökonomisch. Journalismus braucht nicht nur gesetzliche und gesellschaftliche Freiheit, sondern Geld, um journalistische Arbeit zu finanzieren. Das gilt auch für Deutschland, wenn auch in einem anderen Maße.
Anders ausgedrückt: Zeigen Sie mir mal die Straße, die gebaut worden ist, weil man sich zum Straßenbau “bekennt”. Die gibt es nicht. Ebensowenig gibt es “Pressefreiheit”, nur weil man sich zu der “bekennt”.
Herr Erdogan ist zweifellos ein Mensch mit mindestens despotischen Zügen, der gerne in die Geschichte eingehen will, dabei aber nicht bemerkt, dass die Würdigung eher nicht positiv ausfallen wird. Das hat er mit anderen Despoten gemeinsam.
Herr Erdogan hat dazu selbst sehr viel beigetragen – er ist zwar Präsident eines vermeintlich demokratischen Staates, bekämpft aber demokratische Strukturen. Kritik ist ihm nicht nur lästig, er bekämpft sie und beweist damit, dass er nicht demokratisch denken kann.
Allerdings fällt auf, dass auch die Deutschen dazu immer weniger in der Lage sind. Kritik an anderen ist immer “demokratisch”, Kritik gegen einen selbst eine “Unverschämtheit” oder sogar “Hetze”.
Es fällt beispielsweise niemandem auf, dass die fast drei Millionen Türken in Deutschland anscheinend keine Meinung zur “Causa Erdowie, Erdowo, Erdogan” haben. Keiner hat sie gefragt, keiner hat sich zu Wort gemeldet. Die deutschen Türken sind meinungslos – zumindest in der Öffentlichkeit.
Auch das sind “Missverständnisse”. Vermisste Verständnisse. Ohne klare, nachvollziehbare Informationen wird Presse- und Meinungsfreiheit zur Dauersatire.
Staatspräsident Erdogan saß im Knast, weil er ein Aufwiegler war und ist. Vermutlich ist er ein Islamist und vermutlich ein Nationalist, der die Sehnsucht vieler Türken nach einer Wiedererstarkung des Osmanischen Reiches bedient.
Er erscheint zudem skrupellos und unberechenbar. Die allergrößte Schande wäre für ihn, sich “lächerlich” zu machen. Dafür hat er selbst gesorgt. Stimmt. Noch so ein Missverständnis: Die Schuld wird er bei anderen suchen.
Die Macher von Extra3 betonen, dass sie journalistischen Standards folgen. Das ist zu glauben, weil belegbar. Tatsächlich muss der Anspruch von Journalismus immer Aufklärung sein. Journalismus muss aber auch verantwortlich sein – Extra3 gebührt die vermeintliche Ehre, dass ein bissiges Liedchen schärfste Reaktionen hervorgerufen hat – statt kritischer Journalismus im Vorfeld.
Merken Sie, dass etwas schief läuft, wenn erst Satire eine Debatte auslöst?
Tatsächlich hat Extra3 keinen der Inhalte selbst recherchiert, sondern nur Fremdmaterial verarbeitet, um hier keine Missverständnisse entstehen zu lassen.
Der Beitrag kommt nicht zur “Unzeit” – weil bei Herrn Erdogan offenbar die Nerven blank liegen. Um das nicht miss zu verstehen: Die politische Elite ist verantwortlich dafür, dass es mit Herrn Erdogan soweit kommen konnte.
Man hat weder den freien Journalismus noch die Opposition in der Türkei unterstützt, um einen “Check of balances” zu ermöglichen, sondern nur zugeschaut, wie sich die Türkei entwickelt. Möglicherweise von der Hotelbar im “All-inclusive-Urlaub” aus.
Die Entwicklung, die die Türkei nimmt, die Drohgebärde gegenüber dem Verhandlungspartner Deutschland ist ganz klar und unmissverständlich: Man ist auf Konflikt und Krawall programmiert, weil man sich mächtig fühlt und endlich Anerkennung erfahren möchte statt blöden Türken-Spott.
Über Jahrzehnte hat sich diese Haltung entwickeln können und nie hat sich jemand positioniert. Warum sollte man das jetzt wegen einer Satire tun? Weil die Medien in Deutschland sich mal aufregen? Ok, kleine Pressekonferenz gegeben, rumgestottert, abgehakt.
Unterm Strich bleibt das unbehagliche Gefühl, dass die Türkei kein verlässlicher und verständiger Partner der EU ist – weil die EU das auch nie wollte. Warum eigentlich nicht? Warum fragt niemand nach einer möglicherweise unrühmlichen Rolle der EU? Weil es einfacher ist, so einen “Irren” vom Bosporus abzukanzeln? Mal abgesehen davon, dass man sich in der EU keinen Ärger für kritische Fragen einhandelt.
Jetzt gibt es Krise und alle Versäumnisse der Vergangenheit werden deutlich – irgendwann möglicherweise “alternativlos”.
Irgendwann kann schon bald sein – wenn ein Wort das andere gibt, kann es schnell zu noch mehr Missverständnissen kommen.
Und das schadet allen.