Mannheim/Rhein-Neckar/Tegernsee, 27. Mai 2016. (red/tb) „Man sollte viel öfter Mutausbrüche haben“ – schöner Spruch oder? Nur mit der Umsetzung hapert es dann meistens. Vielen Menschen steht die eigene Meinung gegenüber Neuem im Weg – unvoreingenommen und ohne Vorurteile können nur wenige Menschen auf unbekannte Situationen reagieren. Ununterbrochen verschließt man die Augen vor neuen Erfahrungen und Erlebnissen. Ein Familienwochenende wurde für mich ein Erlebnis „out of the comfort zone“. Während die viel zu klein wirkende Gondel ihrem 1.624 Meter entfernten Ziel entgegen steuerte, fragte ich mich: Was mache ich hier eigentlich?
Von Tanja Biedermann
Langsam fängt die Gondel an sich zu bewegen. Die Geräusche, die dadurch entstehen, sind beunruhigend. Ist das wirklich sicher? Kann da auch nichts passieren? Jetzt ist sie auch schon draußen. Schwebt in der Luft. Es gibt kein Zurück mehr. Die dunkelgrünen Tannen und das Gras scheinen um mich herum zu schweben. Tief durchatmen. So schlimm können zehn Minuten ja gar nicht sein. Was war das wieder für ein Geräusch? Ich hätte das nicht tun sollen… Auf der Höhe der Baumspitzen wird es nun richtig unangenehm. Hoffentlich muss ich nie wieder einen Fuß in die Gondel einer Seilbahn setzen.
So oder zumindest so ähnlich könnte eine Beschreibung einer Gondelfahrt aussehen.
Eine andere Erzählung dieses “schwindeligen” Erlebnisses könnte so lauten:
Langsam fängt die Gondel an sich zu bewegen. Aufgeregt schaue ich aus dem Fenster. Nach ein paar Minuten, scheinen die dunkelgrünen Tannen und das Gras neben mir zu schweben. Was für eine Aussicht! Auf der Höhe der Baumspitzen wird es fast schon atemberaubend. Das muss ich unbedingt irgendwann mal wiederholen!
Zwei unterschiedliche Personen erzählen von demselben Ereignis? Könnte so sein. Ist es aber nicht. Beide Schilderungen kommen von einer Person. Von mir. Ich habe beide Perspektiven in mir. Ich habe sie beide so erlebt. Die Sorge, ja Angst, die Unsicherheit, den Zweifel – und dieses unglaublich schöne Erlebnis, dieses ganz und gar phantastische Abenteuer durch die Luft zu schweben und alles von oben zu sehen.
Die erste Person in mir will nach der Fahrt wahrscheinlich nie wieder mit einer Seilbahn fahren. Während die andere Person ganz stolz ist auf sich, das Wagnis eingegangen und mit einem derart atemberaubenden Erlebnis belohnt worden zu sein. Das muss ich nochmal wiederholen.
Welche Perspektive hätten Sie gewählt?
Ohne Vorurteile – geht das?
Mutig zu sein ist nicht leicht.
Andauernd beherrschen uns unbewusst unsere vorurteilsbeladenen Einstellungen – zu allen Dingen. Doch, wenn man beispielsweise eine Fahrt in einer klitzekleinen Gondel überstanden hat, wird man mit einer überragenden Aussicht belohnt. Und dann ist man plötzlich doch froh, sich getraut zu haben. Wieso also nicht auch die Fahrt in einer viel zu kleinen Gondel genießen? Wieso überhaupt sich Gedanken über die Größe der Gondel machen?
Denn es zählt doch das Erlebnis und die Erfahrung, die man durch ein solches Experiment erlangen kann. (Ok: Falls jemand noch schlimmere Höhenangst hat als ich, funktioniert das wahrscheinlich nicht, dann kann man sich ein anderes Abenteuer suchen, durch das man über sich selbst was lernt.)
Sobald man nämlich “in einer Gondel steckt”, kommt man sowieso nicht schnell wieder raus. Irgendwie ist das so auch mit eigenen Meinungen. Die sind meist so festgefahren, dass das Lösen, sich davon lösen, schwer werden kann. Die Gondel kann ein kleiner Käfig sein, in dem man sich ängstlich aufhält oder der Aufbruch in eine Weite, die man so noch nie erfahren hat.
Das gilt auch für Meinungen. Hat man nur eine Perspektive und ist diese festgefahren, dann ist der “Boden der Tatsachen” ziemlich beengt. Hat man mehrere Perspektiven, vergrößert sich auch die Vielfalt der Meinung.
Ich bin ja erst 15 Jahre alt und komme mir schon ganz schön alt vor. Und ich bin froh, dass mir meine persönliche Überwindung gelungen ist: Öfter mal versuchen, wie ein Kind zu reagieren – unvoreingenommen, ohne Vorurteile gegenüber Neuem.
Anm. d. Red.: Tanja Biedermann ist seit diesem Monat 15 Jahre alt. Zu Beginn des Jahres hat sie ein Schülerpraktikum bei uns gemacht – denn sie will unbedingt Journalistin werden und wurde prompt freie Mitarbeiterin bei uns. Was uns sehr freut, ist, wie die junge Kollegin mit dem umgeht, was sie hier lernt. Neugierig die Welt zu betrachten – aus verschiedenen Perspektiven. Andere Standpunkte als den eigenen einnehmen, um andere Sichtweisen zu verstehen. In Bildern erzählen. Emotionen und Fakten in Beziehung setzen. Darüber hat sie nachgedacht und kam spontan und ohne Absprache mit diesem Text um die Ecke. Dafür ein fettes Lob!
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