Stuttgart, 20. Juli 2015. (red/ms) Bei dem Streit um das Kopftuch-Verbot geht es um sehr viel mehr als eine Kleidungsverordnung. Es geht um Emotionen. Um religiöse und politische Identität. Vor allem aber geht es um die Grundsatzfrage: Welche Rolle soll Religion im Bidlungswesen spielen? Denn klar ist: Nach der deutschen Verfassung muss für alle Religionen Gleichheit gelten. Bleibt das Kopftuch also verboten, müssen auch christliche Symbole an den Schulen weichen. Bis es in Baden-Württemberg also zu einer sinnvollen Gesetzesänderung kommen kann, müssen noch etliche entscheidende Fragen geklärt werden.
Von Minh Schredle
Zahlreiche Medien berichteten in den vergangenen Wochen darüber, die grün-rote Landesregierung wolle das Kopftuch-Verbot an Baden-Württembergs Schulen und Kindertageseinrichtungen kippen. Das stimmt nicht. Die Landesregierung will die Bevorzugung christlicher Privilegien aus dem Gesetz streichen. Das bedeutet aber nicht, dass Kopftücher fortan genehmigt wären – sondern dass generell alle religiösen Motive und Symbole an Schulen verboten würden. Dann eben auch die christlichen.
Aus Sicht der Regierung hätte der Landtag bereits im Juni eine Gesetzesänderung veranlassen sollen, die die einseitige christliche Bevorzugung aus dem Schulgesetz beseitigt. Die Opposition aus CDU und FDP protestierte gegen dieses Vorhaben, warnte vor einem “Schnellschuss” und setzte sich erfolgreich dafür ein, eine Beschlussfindung zu vertagen. Zunächst solle eine Grundsatzdebatte mit den betroffenen Akteuren geführt werden. Eine Entscheidung über eine Änderung des Schulgesetzes wird erst nach der Sommerpause im Herbst erfolgen.
Ein akuter juristischer Zeitdruck für eine Gesetzesänderung besteht in Baden-Württemberg nicht – noch nicht: Anlass für die aktuelle Debatte ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Januar 2015, das Festsetzungen im Schulgesetz von Nordrhein-Westfahlen für verfassungswidrig erklärte. Die Rechtslagen in Nordrhein-Westfahlen und Baden-Würrtemberg sind quasi identisch gewesen – solange in Baden-Würrtemberg aber niemand gegen das Schulgesetz klagt, bleibt es formaljuristisch zulässig.
Verfassung verlangt Gleichheit
Unstrittig ist allerdings, dass eine Klage gegen das Schulgesetz auch in Baden-Württemberg Erfolg haben würde. Konkret geht es dabei um den Paraphen 38 Absatz 2:
Lehrkräfte an öffentlichen Schulen nach § 2 Abs. 1 dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußeren Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülern und Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören. Insbesondere ist ein äußeres Verhalten unzulässig, welches bei Schülern oder Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Lehrkraft gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung der Menschen nach Artikel 3 des Grundgesetzes, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftritt. Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nach Artikel 12 Abs. 1, Artikel 15 Abs. 1 und Artikel 16 Abs. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen widerspricht nicht dem Verhaltensgebot nach Satz 1. Das religiöse Neutralitätsgebot des Satzes 1 gilt nicht im Religionsunterricht nach Artikel 18 Satz 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg.
Nach dem Gesetzesentwurf der Landesregierung soll der dritte Satz (rot) in diesem Absatz ersatzlos gestrichen werden. Demnach würde zukünftig die “Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen” nicht mehr zulässig sein. Dadurch würde nicht das Kopftuch erlaubt werden, sondern die Schulen würden zu einem religionsfreien Raum. Das würde weitreichende Konsequenzen bedeuten. Denn auch Fächer wie Kunst oder Geschichte könnten von dem generellen Verbot betroffen sein, wenn keine Ausnahmeregeln festgelegt werden.
Welche Rolle sollen Religionen im Bildungswesen spielen?
Das Urteil des Verfassungsgerichts besagt deutlich: Keine Religion darf einseitig bevorzugt werden. Es muss eine Gleichberechtigung hergestellt werden. Damit werden dem Gesetzgeber zwei Möglichkeiten offen gelassen: Entweder werden alle Privilegien abgeschafft. Oder die Privilegien einzelner werden auf andere Gruppen ausgeweitet. Die Opposition würde die zweite Option bevorzugen. Guido Wolf, Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion und Spitzenkandidat für die Wahlen 2016, sagte dazu:
Unsere Schulen dürfen nicht zu einem religionsfreien Raum werden.
Das Thema ist kontrovers. Denn es geht um sehr viel mehr als eine Kleidungsverordnung. Es geht um die Frage, welche Rolle Religionen im Bildungswesen spielen sollen. Deutlich wird: Eine sinnvolle Gesetzesänderung ist nur dann möglich, wenn vorher eine Grundsatzdebatte mit allen Betroffenen geführt wird.
Kirchen wollen ihre Privilegien auf andere ausweiten
Am vergangenen Freitag luden die Landtagsfraktionen von CDU und FDP/DVP verschiedene Interessenvertreter zu einer Anhörung ein: Insgesamt dreizehn Diskussionsteilnehmer, darunter auch ein islamischer Theologe, Repräsentanten der Kirchen und Vertreter der israelitischen und alevitischen Glaubensgemeinden Baden-Württembergs trugen vor. Gut 70 Besucher waren erschienen. Vertreter aus den regierenden Fraktionen waren nicht anwesend, ebenso wenig wie eine Kopftuchträgerin.
Gut drei Stunden lang wurde unter der Moderation des FDP-Fraktionsvorstitzenden Dr. Hans-Ulrich Rülke und dem bildungspolitischen Sprecher der CDU-Fraktion, Georg Wacker, diskutiert. Unter den Anwesenden herrschte weitestgehend Konsens darüber, dass man lieber anderen Religionen mehr Freiheiten einräumen wolle, als das Christentum zu beschneiden. Dr. Clemens Stroppel, der Generalvikar der Diözese Rottenburg-Stuttgart, sagte, die Vermittlung christlich-abendländischer Werte dürfe nicht eingeschränkt werden. Eher wolle man bisherige Privilegien mit anderen teilen. Schulen dürften nicht missionieren. Aber sie müssten laut Dr. Stroppel die christlich-abendländische Prägung unserer Kultur anerkennen
“Eigenheiten akzeptieren”
Norbert Brugger sagte stellvertretend für den Städtetag:
Der Islam gehört zu Deutschland. Das bedeutet, ihn nicht nur zu dulden. Sondern ihn mit all seinen Eigenheiten zu akzeptieren.
Von einer “Einschränkung der Religionsfreiheit” würde dagegen niemand profitieren. Wichtig sei es, dass der Schulfrieden nicht gestört werde. Man hoffe hierbei auf das demokratische Verständnis der Erziehungsbeauftragten. Von einem Kopftuch allein könne man jedenfalls nicht auf eine Haltung gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung schließen. Sabine Wassmer vom Gesamtelternbeirat Stuttgart pflichtete dem bei:
Für einen guten Unterricht kommt es darauf an, was eine Frau im Kopf hat, nicht darauf.
Laut Professor Dr. Erdal Toprakyaran, Direktor des Zentrums für Islamische Theologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, könnten aus einem Kopftuch kaum Rückschlüsse gezogen werden. Die Beweggründe, eines zu tragen, seien sehr individuell.
Für viele habe es eine politische Bedeutung. Andere trügen es aus reiner Nützlichkeit. Für die meisten Musliminnen sei es ein religiöses Gebot und somit wichtiger Bestandteil für die Ausübung ihres Glaubens.
Nachdrücklich betonte Professor Dr. Toprakyaran, dass Kleidung kein sicheres Indiz für potenziellen Extremismus darstellen würden: “Die meisten Islamisten wirken eher unscheinbar und wollen zunächst nicht auffallen,” sagte er. Und selbst wenn eine muslimische Lehrkraft verfassungsfeindlich eingestellt sein sollte, würde auch ein Kopftuchverbot nichts daran verändern und die Gefahr nicht aus der Welt schaffen. Auch laut Barbara Traub, die die israelitischen Glaubensgemeinschaften Badens und Württembergs vertrat, könne man Religion und Haltung nicht mit der Kleidung ablegen.
Kopftuch als Symbol der Unterdrückung?
Frau Traub erwähnte allerdings ebenfalls, dass Verhüllungen aus Sicht liberal eingestellter Jüdinnen und Juden insbesondere vor dem Hintergrund der Emanzipation eher kritisch betrachtet würden. Man wolle aber nicht in den Glauben anderer eingreifen. Auch verschiedene Zuschauer meldeten sich zu Wort und bezeichneten das Kopftuch als “Symbol der weiblichen Unterwerfung”.
Explizit für das Kopftuch-Verbot sprach sich unter den Diskussionsteilnehmern die alevitsche Glaubensgemeinde aus. Ruhan Karakul, die nach eigenen Angaben etwa 40.000 der rund 100.000 Aleviten in Baden-Württemberg vertritt, sagte, religiöse Symbole hätten an Schulen generell nichts verloren. Insbesondere Kopftücher seien unangebracht, da diese in der Vergangenheit missbraucht worden seien, um “selbstbewusste alevitische Frauen in ihrer Gleichberechtigung einzuschränken und Aleviten zu diskriminieren.”
Im alevitschen Glauben werden keine Kleidungsvorschriften erteilt. Die Glaubensrichtung ist aus dem Islam entstanden, unter Experten ist allerdings strittig, ob sie diesem immer noch zugeordnet werden kann. In der Türkei wird das Alevitentum nicht als Religion anerkannt und es gibt deutliche Anzeichen für Diskriminierung bis hin zur Verfolgung.
Frau Karakul befürchtet, dass durch kopftuchtragende Lehrerinnen ein Druck auf junge Muslimien ausgeübt würde, die sich dazu entschlossen haben, kein Kopftuch zu tragen. Dies sei mit einer freien Glaubensausübung und dem Neutralitätsgebot, zu dem Lehrpersonal verpflichtet ist, nicht zu vereinen und würde den Schulfrieden stören.
Jede Menge offene Fragen
Wie ein Gesetzestext aussehen könnte, in dem das Tragen religiöser Kleidungsstücke und die Neutralitätspflicht, zu der Lehrpersonal verpflichtet ist, vereinbar sind, ist momentan fraglich. Dr. Iris Kemmler, Privatdozentin an der Juristischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, sagte, es sei sehr schwierig, konkrete Vorgaben zu treffen. Denn es ließen sich unmöglich alle Einzelfälle vorhersehen. Deswegen sei es wichtig, dass immer ein gewisser Beurteilungsspielraum offen bliebe.
Daran knüpfen allerdings weiter Umstände an: Wer soll dafür zustädnig sein, zu beurteilen, ab wann der Schulfrieden und die Neutralität gestört werden? Die Schulleitung? Oder soll jeder Einzelfall vor Gericht enden? Wie soll man Willkür vorbeugen, wenn die Vorgaben eher abstrakt sind?
Gleichzeitig sei es laut Dr. Kemmler ebenfalls sehr problematisch, konkrete Kriterien festzulegen, da diese missbraucht werden könnten, um Kampagnen zu führen:
Der Mob darf kein religiöses Symbol zur Störung erklären. Die Störung muss eindeutig vom Symbol ausgehen.
Doch wie will man festlegen, wer sich durch was gestört fühlen darf? Und welche Bedenken ungerechtfertigt sind?
All das sind hochkomplexe Fragen, die mit viel Aufwand sorgfältig geklärt werden müssen – ein “Schnellschuss” ist ganz sicher unangebracht. Laut Guido Wolf werde das Kopftuch-Verbot kein Wahlkampfthema werden – es ist eher fraglich, wie das noch vermieden werden soll. Denn nach der Sommerpause bleibt bis zur kommenden Landtagswahl gerade mal ein halbes Jahr. Es wird also spannend, welche Positionen die Fraktionen bis dahin beziehen und wie sie dafür argumentieren.