Mannheim, 19. Februar 2013. (red/ld) “Mannheim und die Mannheimer?”, möchte man vorsichtig antworten. Nach der Performance “Wir sind hier” am Sonntagnachmittag wissen es die Betrachter nicht mehr so genau: 222 Mannheimer aus 56 Kulturen fließen in der Performance zusammen und zeigen Mannheim als Weltstadt, in der die verschiedensten Kulturen eine neue Heimat gefunden haben.
Von Lydia Dartsch
Die rund 600 Besucher wissen noch nicht, worauf sie sich am Sonntag Nachmittag eingelassen haben. Die 600 Besucher, die am Vormittag schon da waren, wissen bereits, was sie wenigstens ahnen könnten: Der Mann im gelben Frack und Safarihut stellt sich mit einem gelben Ballon als Reiseleiter der gelben Gruppe vor und bittet die Besucher, die am Eingang ein gelbes Bändchen bekommen haben, mitzukommen ins Opernfoyer.
Tradition trifft Popkultur
Die Weltreise durch Mannheim beginnt. Wo sich sonst Operngäste die Zeit zwischen den Akten vertreiben, lächeln freundlich indonesisch gewandete Frauen und Männer den Besuchern entgegen. Eine indonesische Tänzerin tanzt mit goldener Krone zu den Klängen traditioneller Instrumente. Dann öffnet sich eine Tür: Uli Krug, musikalischer Leiter der Produktion, betritt das Foyer mit Sousaphon und der First Ukuleleband Filsbach. Die Musiker steigen ein in die Musik, die erst so gar nicht heimelig klingt, aber schon bald erkennbar wird: “Die Gedanken sind frei” spielen sie. Die Tänzerin ist inzwischen umringt von den Break Ranks, die die Elemente des indonesischen Tanzes aufgreifen und in ihre Breakdancemoves integrieren. Das Publikum ist begeistert und spendet tosenden Applaus.
Die Reise geht weiter nach Eritrea ins Theatercafé. Der Eritreische Verein und seine Tanzgruppe Hadinet empfangen hier das Publikum mit traditionellem eritreischen Tanz. Die Musik wird live gespielt auf einer Laute mit Wahwah-Effekt, Schlagzeug und E-Gitarre: Ein Kontrast, der hier mit Modern Dance unterstrichen wird. Spätestens auf dem Weg zurück ins Theaterfoyer wird deutlich, worauf der Nachmittag hinausläuft: Hier geht es um den Kontrast zwischen klassischem Ballett und türkischem Volkstanz “Horon”. Beim anschließenden “Delta Groove” kommen alle drei Reisegruppen wieder zusammen und klatschen mit den Trommeln zum Rhythmus, wärmen sich auf für das Spektakel, das sie gleich im Schauspielhaus erwartet.
Suche nach Authentizität und Sicherheit in Traditionen
Dort zeigen die Musiker und Tänzer wie vielschichtig Heimat, Kultur und Identität sein können: Sie zeichnen sich aus durch Kleider, durch Sprache, Gesten, Musik und Tanz. All diese Elemente hat das Projekt Wir! auf der Schauspielbühne zusammen gebracht. Wurden sie anfangs nur kontrastiert durch ihre modernen westlichen Gegenparts, scheinen sie nun zu verschmelzen. Die Fülle und Vielfalt an Tanzdarbietungen überwältigen den Zuschauer. Eine Videoinstallation läuft hinter dem Wir-Orchester, das von Cosette Justo Valdés geleitet wird. Man will sich an den Bildern festhalten:
Das ist doch Mannheim!
denkt man für den Bruchteil einer Sekunde, bis einem auffällt, dass der Ort doch ein anderer ist. Im Finale will die Hymne “Wir sind hier” von Chris “Chrizzy” Beck und Henry “The Patrone” Sanchez Valdez wieder Halt geben. Aber zu spät: Die Zuschauer sind bereits verloren in diesem Strudel. Am Schluss steht der ganze Zuschauerraum und klatscht: Erst im Takt, dann gibt es tosenden Applaus.
Gefangen in diesem musikalischen, multikulturellen Strudel kommen einem Fragen: Gibt es in unserer schnellen, globalisierten und kommerzialisierten Gesellschaft eine Sehnsucht nach Sicherheit und Authentizität? Findet man sie in den Traditionen der Eltern und Großeltern? Man findet sie genau dort. Denn dort bildet sich zuerst die Identität, die Persönlichkeit. Doch erst durch die Begegnung mit anderen Menschen, mit anderen Kulturen wird die Persönlichkeit komplett: Elemente werden aufgenommen, weiterentwickelt und an andere weitergegeben. Das zeigt die Performance eindrucksvoll.
Gefahr, sich selbst zu verlieren
Sie zeigt aber auch, dass es den überfordern kann. Die Flut der Bilder, die Masse an Musikern, Tänzern und die unterschiedlichen Geschichten, die erzählt werden sollen erschlagen den Zuschauer regelrecht. Das zeigt nicht nur, dass multikulturelles Zusammenleben und interkultureller Austausch funktionieren kann. Das zeigt auch, dass beides anstrengend ist und man Gefahr läuft, sich selbst in diesem Strudel zu verlieren.
Federführend für die Performance in Kooperation mit dem Nationaltheater Mannheim ist ein internationales Team aus Choreographen, Musikern, Tänzern, Videokünstlern und Komponisten unter der Regie von Gerburg Maria Müller und der musikalischen Leitung von Uli Krug. “WIR!” ist ein Projekt vom Büro 2020 und dem Kulturamt der Stadt Mannheim, ermöglicht durch die H. W. und J. Hector-Stiftung. Schirmherrin ist Bilkay Öney, die Integrationsministerin des Landes Baden-Württemberg.