Frankenthal/Rhein-Neckar, 14. Juni 2016. (red) Aktualisiert. Der Leitende Oberstaatsanwalt Hubert Ströber ist gegenüber den Medien überwiegend sehr zurückhaltend. Heute ging er in die Offensive und erklärte auf einer Pressekonferenz, warum er nach einem entflohenen Frauenmörder bis heute nicht öffentlich fahnden lässt. Gestern wurde durch einen Bericht der Bild-Zeitung bekannt, dass ein 1999 wegen Mordes an einer Frau und einer Vergewaltigung verurteilter Mann seit vergangenem Dienstag auf der Flucht ist. Er war in der Justizvollzugsanstalt Diez (Lahn/Limburg) in Haft und hält sich möglicherweise im Raum Ludwigshafen auf. Der Mann ist möglicherweise eine tödliche Bedrohung für Frauen.
Von Hardy Prothmann
Wir haben entschieden, dass eine öffentliche Fahndung den Fahndungserfolg gefährden würde,
erklärt Hubert Ströber, Leiter der Staatsanwaltschaft Frankenthal. Für die Flucht sei man nicht verantwortlich, deswegen werde er dazu keine Auskunft erteilen. Für die Fahndung sehr wohl und zusammen mit der Polizei habe man entschieden, die Fahndung nicht-öffentlich vorzunehmen, um beispielsweise im “Umfeld des Flüchtigen” zu ermitteln. Öffentliche Informationen hätten diese Fahndungsmethode erheblich behindert.
Der Mörder mit dem Allerweltsgesicht
Das ist nun der Fall. Dementsprechend sei die Veröffentlichung nicht “hilfreich”. Es ginge nicht um “Geheimniskrämerei”, sondern darum, den Flüchtigen schnellstmöglich wieder in Haft zu bringen. Mit Veröffentlichung der Informationen in der Bild-Zeitung wissen der wegen Mordes verurteilte Straftäter als auch mögliche Unterstützer, dass zunächst verdeckt gefahndet worden ist. Oberstaatsanwalt Ströber hat noch nicht entschieden, ob nach Wegfall dieses Fahndungsansatzes eine Foto-Veröffentlichung folgen wird:
Das Bild ist unbrauchbar. Es zeigt einen Mann mit einem Allerweltsgesicht, das sich durch kleinste Details verändern lässt und eine Erkennbarkeit unwahrscheinlich macht.
Die Bild-Zeitung hatte ein Bild des damaligen Angeklagten Ende 20 veröffentlicht. Ein junger Mann mit vollem Haar und Ansätzen von Geheimratsecken. Dieses Foto muss mindestens 17 Jahre alt sein. Der SWR hatte über den verurteilten Mörder ein TV-Porträt gesendet und veröffentlichte aktuell ein Bild aus dem Film von 2008. Der entflohene Häftling Sascha B. (46) hat tatsächlich ein rundes, wenig markantes Gesicht. Das Haar ist 2008 schütter und kurz gehalten. Er trägt eine Brille. Vermutlich hat er heute längst eine Halbglatze.
Zudem besitzt der Verurteilte keinerlei persönliche Merkmale, die eine Wiedererkennung erleichtern würden, so dass zudem die Gefahr bestand, dass die eingeleiteten spezifischen Fahndungsmaßnahmen durch zahlreiche unbrauchbare Hinweise aus der Bevölkerung behindern werden könnten,
sagt Herr Ströber.
Auf den ersten Blick kann man dem Staatsanwalt folgen: Vergleicht man die Bilder, verändern allein die Brille und das Kopfhaar als markante Detail dieses Gesicht. Allerdings: Es gibt Merkmale, die man genau beschreiben kann. Das Alter, die Größe, die Figur und eine deutlich nach links gerichtete Nase, kleine Nasenlöcher, Glatze und seitlich dunkle, möglicherweise angegraute Haare, dazu eine vorgewölbte Unterlippe. Weitere Details, ein besonderer Gang vielleicht, Auffälligkeiten an den Händen, auch Merkmale des Sprechens (er soll sehr leise sprechen und höflich auftreten) oder die an diesem Tag getragene Kleidung könnten identifizierend sein, werden aber nicht genannt.
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Das Medieninteresse ist groß bei der Pressekonferenz im Landgericht Frankenthal, wo der Mann damals verurteilt worden ist. 1995 hat er in Ludwigshafen eine Frau erstochen, die den Sex mit ihm verweigerte. 1998 vergewaltigte er eine Frau in der Umgebung von Ludwigshafen – ein Abgleich der Fingerabdrücke brachte die Polizei auf Spur und entlarvte Sascha B. als Mörder der damals 46 Jahre alten Frau. Eine “Zufallsbekanntschaft”. Mehrere Kamerateams und insgesamt gut 20 Journalisten wollen mehr zur Lage wissen.
Die Flucht – wie gefährlich ist der verurteilte Mörder?
Doch Herr Ströber lässt nur wenige Informationen raus. Er erklärt mehrfach, dass die Pressekonferenz nur für Fragen zur Fahndung da ist. Wo sich Gesuchte ungefähr aufhalten könnte? Keine Antwort. Welche Polizeien suchen den Mann? Keine Antwort. Hat das damalige Vergewaltigungsopfer Polizeischutz? “Das entscheidet die Polizei.” Wie gefährlich ist der Mann für die Öffentlichkeit: “Er ist mittelbar gefährlich.”
Nach unseren Informationen ist diese Aussage bedenklich. Denn offenbar gibt es nicht nur das Mord- und das Vergewaltigungsopfer, sondern weitere Frauen, die sehr negative Erfahrungen mit dem Mann gemacht haben. Das haben unsere Recherchen ergeben, die wir aus Schutzgründen nicht weiter ausführen können. Der Mann war mehr als diese beiden Male gewalttätig gegenüber Frauen. Möglicherweise hat seine Inhaftierung dafür gesorgt, dass er keine weiteren Frauen getötet hat.
Sascha B. wurde 1999 verurteilt. Seit 2000 sitzt er in der JVA Diez ein. Seine lebenslange Haftstrafe hatte er im Januar 2014 verbüßt – 15 Jahre. Was viele nicht wissen: Eine “lebenslange” Haftstrafe dauert mindestens 15 Jahre. Danach gibt es bei positiver Prognose die Möglichkeit für Straftäter, wieder auf freien Fuß zu kommen. Allerdings eben nur für die, von denen keine Gefahr mehr ausgeht.
Die Möglichkeit einer Haftentlassung ergibt sich aus Artikel 1 Grundgesetz über die Menschenwürde. Strafgefangene können entlassen werden, dafür werden sie begleitend auf das Leben in Freiheit vorbereitet,
erläutert Herr Ströber. Das war auch bei Sascha B. der Fall. Er war schon mehrfach “ausgeführt” worden. Das bedeutet, dass er sich gefesselt in Begleitung eines Justizvollzugsbeamten außerhalb des Gefängnisses bewegen konnte. Absolviert der Gefangene dies ohne Probleme, folgt der “begleitete Ausgang”:
Für den Häftling war das der 5. begleitete Ausgang,
sagt der Leiter der JVA Diez, Josef Maldener, auf Anfrage. Der Häftling ist dann nicht mehr gefesselt und darf sich auch für kurze Zeit unbeobachtet bewegen, beispielsweise in einem Geschäft. Am vergangenen Dienstag war dies der Fall. Nachdem der Häftling über 20 Minuten in einem Geschäft war, schaute der Justizvollzugsbeamte nach und der Mann war weg. Damit ist die Frage geklärt, die Herr Ströber nicht beantworten wollte: Es wurde keine Gewalt angewendet und der Täter hat auch keine Waffe an sich gebracht, denn die Justizvollzugsbeamten tragen bei diesen Ausgängen keine.
Gab es Fluchthelfer?
Im Gefängnis sei der Mann nicht als gewalttätig aufgefallen, sagt Herr Maldener. Er habe Theologie studiert und abgeschlossen. Eine impulsive Flucht kommt kaum in Betracht – dafür ist der Mann zu intelligent und überlegt. Und hätte er nicht noch einigen Tagen auf den Gedanken kommen müssen, dass es keine gute Idee war zu fliehen? Dass man ihn wieder einfangen wird und sich eine mögliche Entlassung auf viele Jahre verschiebt? Zur JVA hat er jedenfalls keinen Kontakt gesucht. Hat er also die Flucht geplant?
Hatte er Fluchthelfer? Das ist Spekulation – aber eine, die auch Oberstaatsanwalt Ströber offenbar anstellt und deshalb das “Umfeld diskret überwachen” ließ. Das Umfeld sind nach unseren Informationen Mitglieder der Familie. Seine Tochter kommt zur Welt, als er schon verhaftet ist. Oder ist es jemand aus dem “theologischen” Umfeld? Jemand, der dem geläuterten Christen helfen will?
Selbstverständlich verfügt die JVA über Informationen zu dem Mann, die der Staatsanwaltschaft überstellt wurden. Was weiß die Staatsanwaltschaft? Hat sie konkrete Fahndungsansätze oder stochert sie im Nebel? Will sie öffentliche Panik vermeiden?
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Ein Gesuch auf Haftentlassung ließ die Strafvollstreckungskammer nicht zu. Ein forensisch-psychologisches Gutachten kam zu dem Schluss, dass eine Entlassung derzeit nicht empfohlen werde, wohl aber Haftlockerungen. Weitere Details waren nicht zu erfahren. Was also hat die Prognose negativ beeinflusst? Er hat sich gut geführt, erfolgreich studiert, ist ein “höflicher” Mensch, war nie gewalttätig in Haft. Er hat sogar eine Therapie gemacht. Warum also die Zweifel? Aus diesen Umständen lässt sich darauf spekulieren, dass von dem Mann sehr wohl noch eine Gefahr ausgeht und zwar zuallererst für Frauen.
Ist der Frauenmörder wieder in Ludwigshafen?
Dass der Mann bereits acht Tage auf der Flucht ist, deutet weiter darauf hin, dass er Unterstützer hat. Wo soll er nächtigen bei diesem Dauerregen? Was isst und trinkt er? Wo besorgt er seine Toilette? Er ist kein Dieb und kein Einbrecher, war nie auf der Flucht, verfügt also eher nicht über die nötigen Fähigkeiten, sich “über Wasser zu halten”.
Vielleicht hat er bereits doch jemanden überfallen? Immerhin ist er fähig, brutale Gewalt auszuüben. Sein Mordopfer muss er mit einem Messer absolut grausam zugerichtet haben. Vielleicht befindet er sich in einer Wohnung, mit Dusche und vollem Kühlschrank. Doch wo?
Mit großer Wahrscheinlichkeit wird er sich dort aufhalten, wo er sich auskennt, also Ludwigshafen und Umgebung. In der JVA Diez saß er ein – die Gegend kennt er aber nur von den Freigängen. Kontakte zur Bevölkerung dort sind nicht bekannt. Nach 18 Jahren in Haft dürfte der Kreis möglicher Unterstützer sehr klein sein.
Politischer Streit
Auf der politischen Ebene gibt es Vorwürfe. So wirft die CDU dem rheinland-pfälzischen Justizminister Herbert Mertin (FDP) vor, nicht informiert gewesen zu sein. Der will die Vorgänge prüfen. Der stellvertretende Leiter der Justizvollzugsanstalt habe nach der Flucht sofort Staatsanwaltschaft, Polizei und Ministerium informiert, sagt Herr Maldener, der zu diesem Zeitpunkt selbst in Urlaub war.
Die Staatsanwaltschaft habe umgehend Haftbefehl beantragt und erhalten und die Polizei die Fahndung eingeleitet. Warum die Information im Ministerium den Minister nicht erreichte, ist unklar.
Anm. d. Red.: Wir verfügen über kein früheres Foto des flüchtigen Sascha B. Selbst wenn wir über ein Foto verfügen würden, würden wir es nicht veröffentlichen. Der Grund? Auch ein Straftäter hat Persönlichkeitsrechte. Der Mann wurde verurteilt und hat die Mindeststrafe verbüßt – auch Straftäter haben ein Recht, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Aktuell ist der Mann auf der Flucht und wird nach Festnahme über lange Zeit sicher nicht entlassen werden. Die Gefahr, dass jemand anderes “identifiziert” wird, der dem gesuchten Mann ähnlich sieht, ist nicht von der Hand zu weisen. Damit sind Dritte möglicherweise betroffen, die unschuldig sind. Sofern die Staatsanwaltschaft ein Foto des Gesuchten frei gibt, werden wir dieses veröffentlichen.
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