Rhein-Neckar, 14. Januar 2016. (red/pro) Seit der Silvesternacht scheint nichts mehr, wie es vorher war. Das Internet kocht über – voll mit übelster Hetze gegen Ausländer, insbesondere “Flüchtlinge”. Die Funktionsfähigkeit von Behörden wird angezweifelt. “Die Medien” sowieso. Das Sündenbock-Prinzip beginnt, unsere Gesellschaft im Kern zu delegitimieren. Und das ist brandgefährlich.
Kommentar: Hardy Prothmann
Ich habe es schon immer gewusst. Aber das wollte ja keiner zugeben. Jetzt wird alles klar. Endlich kommt die Wahrheit ans Licht. Wer das jetzt noch bestreitet, verrät uns alle.
Lesen Sie die fünf Sätze bitte mehrmals. Welche Information enthalten sie? Richtig. Genau keine. Solche Sätze tun aber so, als ob. “Es”, “keiner”, “alles”, “Wahrheit”, “das”, “uns alle”. Alles leere Hülsen.
Diese Gesellschaft ist komplex
Wer sich so äußert, ist “sprachlos” – es fehlen einfach Informationen, um die Worthülsen auszufüllen. Möglicherweise fehlt auch die Fähigkeit dazu, sich präzise zu äußern. Für andere spielen weder Informationen noch Fähigkeiten eine Rolle – sie lassen ihren Ressentiments, ihren Vorurteilen, ihrem Hass auf alles und jeden einfach freien Auslauf.
Die Silvesternacht in Köln und anderen Städten ist aus dem Ruder gelaufen – das steht außer Frage. Es muss und wird geklärt werden, was passiert ist und wie man das künftig verhindert. Ob “das Bauernopfer”, der in den Ruhestand versetzte Polizeipräsident, reicht, um das Problem zu lösen, darf und muss bezweifelt werden.
Wie so oft, sind Probleme nicht einfach und schon gar nicht einfach zu lösen. Wir leben in einer komplexen Gesellschaft und jede Handlung zieht andere Handlungen nach sich. Neue Gesetze müssen mit anderen Gesetzen funktionieren und für alle gleich gelten. “Sondergesetze” sind etwas aus einer sehr dunklen Zeit.
Richtig: Es wurden viele Fehler gemacht
Richtig ist: Es werden Fehler gemacht. Bei Behörden, bei Medien. In der Wirtschaft. Im Verein. Zuhause. Von uns allen. Von Menschen. Richtig ist auch: Verantwortlichkeiten sind zu benennen, Konsequenzen müssen gezogen, Entscheidungen getroffen werden, um künftig absehbare Fehler zu vermeiden. Fehler an sich wird es aber immer geben – solange es Menschen gibt.
Wir leben in einem der sichersten Länder dieser Welt – in das jetzt Verunsicherung eingezogen ist. Eine heißt: Die sexuelle Bedrohung von Frauen. Frauen wie Männer arbeiten sich daran ab, unsere Gesellschaft als “Sodom und Gomorrha” zu brandmarken. Als Sündenböcke ihrer eigenen Verderbtheit benennen sie “die Flüchtlinge”, “die Politik”, “die Medien”, “die Polizei”. Die Belege dafür klauben sie sich aus vielen Quellen zusammen: Vor allem aus Medien, politischen Äußerungen und Polizeiberichten.
Schaut her: Hier in Berlin, in Cottbus, in Hamburg, in Bielefeld, in Köln, in Frankfurt. Es passiert überall. Seid ihr blind? Sehr ihr nicht, was hier passiert? Die wollen uns für dumm verkaufen.
“Die”, das sind Politiker, Behörden, Medien und andere. Die allermeisten bemühen sich unter hohem Aufwand, eben genau hinzuschauen, exakte Informationen zu sammeln, diese miteinander zu vergleichen, daraus Schlüsse zu ziehen und Handlungen abzuleiten.
“Das Volk”? Wer ist das?
Das sind hochkomplexe Herausforderungen, die von einzelnen, die meist überhaupt “keinen Schimmer” haben, niederkommentiert werden. Und weil es so viele “Einzelne” sind, wird daraus eine anonyme Masse. “Das Volk”. Und dieses “Volk” hält sich für “wir” – es ist und bleibt aber nur ein anonymes Etwas. Niemals verantwortlich, macht dieses Etwas alle für alles verantwortlich, “was schief läuft”.
Es gibt ein Heer von typisch deutschen Besserwissern – früher waren das nur Millionen von Fußballexperten. Die waren harmlos. Weil Fußballspiele nach 90 Minuten vorbei sind.
Heute halten sich viele für die besseren Verwaltungsexperten, Politiker, Polizisten, Staatsanwälte, Richter, Volkswirte, Lehrer, Ärzte oder eben Journalisten.
Was alles schief läuft
Ja. “Irgendwas läuft schief”. Das ist nicht “die Wahrheit”, aber wahr. ICE-Züge bleiben stehen oder es gibt sogar schwere Unglücke. Ein Pilot steuert sein Flugzeug und hunderte Menschen in den Tod. Jeden Morgen gibt es auf der und der Straße Stau. Kurz vor Geschäftsschluss hat die Bäckerei kein Brot mehr. Am Scheibenwischer hängt ein Strafzettel. Das Gehalt ist zu spät auf dem Konto. Deutschland ist nicht Fußball-Weltmeister geworden. VW ist in einen bislang nicht gekannten Skandal wegen der Abgaswerte verwickelt. Börsen crashen. Banken bekommen Milliarden. Die geliebte Katze wird überfahren.
Für alles, “was schief läuft”, lassen sich “eindeutige” Belege finden: Im Internet oder “was man gehört” hat oder “was man einfach weiß, das ist doch klar”, um mit Xavier Naidoo zu sprechen. Worthülse wird an Worthülse gereiht, man rafft sich zusammen, was zur eigenen Weltsicht passt und schlussfolgert: “Das ist der Beweis.” Dem “Erfindergeist” selbst für abstruseste “Erklärungen” sind scheinbar keine Grenzen mehr gesetzt.
Gewalt gegen Frauen ist ein gesamtgesellschaftliches Problem
Ja. Es gibt ganz offenbar eine Häufung von sexuellen Übergriffen auf Frauen im öffentlichen Raum. Und Vieles deutet daraufhin, dass die Täter Ausländer sind, viele davon Flüchtlinge. Gibt es nicht “genügend Beweise”? Doch, es gibt viele Vorfälle. Dutzende, hunderte in der ganzen Republik. Aber auch “Tausende”? Da wird es schon zweifelhaft. Oder gar “Fünfhunderttausende”? Wären alle oder “die meisten” männlichen Flüchtlinge sexuelle Rüpel oder Straftäter, dann müsste es so viele geben, denn mehr als die Hälfte der Menschen, die 2015 nach Deutschland gekommen sind, sind Männer, viele davon jung.
Ist der Islam dafür verantwortlich? Bislang gibt es dafür genau keinen Beleg. Sind die “Gesellschaften” der Herkunftsländer dafür verantwortlich? Dazu gibt es viele Hinweise, die man konkret und sachlich untersuchen muss.
“Die” müssen sich an “unsere” Rechtsordnung halten. Diese Forderung ist berechtigt und absolut zulässig. Die Frage, wie sich jemand an etwas halten soll, was ihm unbekannt ist, wird allerdings gerne vergessen. Die allermeisten Flüchtlinge kommen aus Ländern, in denen es keine Rechtsordnung gibt oder wenn, eine, die mit unserer deutschen nichts zu tun hat. Diese Erkenntnis löst noch kein Problem, sondern beschreibt es erst und das ist immer der Anfang von Veränderungen.
Ja. Viele dieser Gesellschaften, aus denen diese Menschen kommen, zeichnen sich durch ein Frauenbild aus, das in Deutschland überholt ist. Vergessen wird gerne, dass auch “die Deutschen” einen langen Weg hinter sich haben, um Frauen mehr Rechte zu geben und sie den Männern gleich zu stellen – was bis heute nicht zu einhundert Prozent gelungen ist.
Das Thema Gewalt gegen Frauen ist auch ein deutsches Thema – immer wieder beachtet, aber man schaut gerne auch mal weg. Belästigungen finden bei der Arbeit statt, auf Festen, im Verein, in der Straßenbahn. Und was aktuell komplett ausgeblendet wird: Insbesondere der sexuelle Missbrauch von Kindern, hier überwiegend Mädchen, findet nicht öffentlich, sondern im Privaten statt, dort, wo man nur schwer hinschauen kann. In den Familien. Täter sind auch hier vor allem Männer. Väter, Onkels, Großväter, Freunde der Familie. Um diese Verbrechen aufzuklären, muss man Scham überwinden, die Sorge, den “Ruf zu verlieren”, weil man gesellschaftlich geächtet wird.
Gewalt gegen Frauen in der deutschen Gesellschaft und durch “Fremde” muss man gleichsetzen – es ist und bleibt Gewalt gegen Frauen. Aber es ist auch richtig, zu differenzieren. Denn die Abläufe sind unterschiedlich, die Aufklärung ist im Privaten häufig viel schwieriger. Und die provokante Frage könnte lauten: Wer hat eigentlich mehr Schuld? Der, der es besser wissen müsste oder der, der kein Schuldbewusstsein hat, weil er davon nichts weiß? Für die Opfer ist die Frage zunächst unerheblich.
“Weltbilder” sind oft verzerrte Ausschnitte der “Wirklichkeit”
Jeder einzelne kann für sich entscheiden, wie er sich über was bei wem informiert. Wie tief, wie breit, wie kontrovers. Leider muss man den Eindruck haben, dass viele Menschen kein Interesse haben, sich “kritisch” zu informieren, umfassend, sich also mit einer Sache auseinander zu setzen. Stattdessen sucht man sich lieber das zusammen, was zum eigenen Weltbild passt und “postet” es flugs in die weite Welt hinaus. “Sehr her, ich weiß Bescheid.”
So gesehen muss man sich viel mehr Sorgen über die Bedrohung der “Vielen” aus dem “deutschen Volk” für Deutschland machen, als durch fremde Menschen, die zwar hier sind, aber längst nicht angekommen.
Wenn die Mehrheit der Deutschen “eindeutig” weiß, dass die Flüchtlinge “Kriminelle” sind, Medien “lügen” und Politiker wie Polizei systematisch “versagen”, dann müsste man eigentlich schnellstens die Koffer packen und fliehen. Denn dann wäre Deutschland nicht mehr sicher.
Das ist nicht der Fall – aber es gibt “da draußen” viele, die daran arbeiten. Indem sie diffamieren und diskreditieren. Indem sie andere abwerten und mit Hetze überziehen. Indem sie allem und jedem absprechen, “ordentlich zu sein”. Indem sie alles, was nicht dem eigenen “Weltbild” entspricht, “zur Sau machen” und versuchen, diese durch virtuelle Dörfer zu treiben. Indem sie für “alles” einen Sündenbock ausmachen. Man selbst ist dabei natürlich niemals verantwortlich für das eigene Handeln, für die eigenen Kommentare. Ein “Weltbild” ist übrigens immer nur das, was man selbst sieht und das ist niemals die ganze Welt.
Wir sind mitverantwortlich – Sie auch
Sie, liebe Leserin, lieber Leser, werden von uns so gut informiert, wie wir das können. Ebenso von anderen seriösen Medien. Und ja – es gibt jede Menge unseriöse Medien, die keine Sorgfalt aufwenden und gezielt mit Stimmungen arbeiten.
Aktuell wird überall diskutiert, wie man über Straftaten berichtet: Nennt man die Herkunft der Tatverdächtigen oder nicht? Wir halten uns dabei an die Vorgaben des Deutschen Presserats. Die Herkunft oder die religiöse Zugehörigkeit ist erstmal ohne Belang und spielt in der Berichterstattung keine Rolle.
Ausnahmen machen wir, wenn “für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht”, wie es in Ziffer 12 des Pressekodex heißt. Und aktuell sehen wir diese Ausnahme als gegeben an – und wir prüfen das für jeden Einzelfall.
Welche Folgen diese Informationen für das eigene Leben haben, entscheiden Sie selbst. Ebenso, wie Sie diese Informationen einordnen und sich mit anderen darüber austauschen und wie Sie selbst sich dazu äußern. Wir geben Ihnen diese Informationen nicht, damit Sie sich ein rassistisches Weltbild zusammenschustern können, sondern damit sie umfassend informiert sind, diese Informationen mit anderen austauschen können und sich mit anderen Gedanken machen, wie man vernünftige, humane und rechtsstaatliche Lösungen findet.
Wir haben und werden weiter aus sehr vielen unterschiedlichen Perspektiven berichten, weil es auf diese verschiedenen Blickwinkel ankommt. Wer nur eine Position einnimmt, hat keinen Überblick. Wer sich nicht umfassend informiert, hat sicher auch eine Meinung, aber eben eine sehr eingeschränkte.
Für uns steht außer Frage, dass die öffentliche Sicherheit auch nicht ansatzweise gefährdet ist. Die individuelle hingegen möglicherweise schon, ob durch Terrorattentate, sexuelle Übergriffe, Einbrüche oder jemanden, der die rote Ampel übersieht.
Wer Terror, Übergriffe, Einbrüche und übersehene rote Ampeln gleichsetzt, den muss man nicht ernst nehmen. Das eine ist Mord, das andere eine Sexualstraftat, das nächste ein Eigentumsdelikt und die übersehen Ampel ein Verkehrsdelikt.
Hier steht jeder selbst in der Verantwortung, den jeweiligen Einzelfall ordentlich zu bewerten und insbesondere beim eigenen Verhalten. Wer spät nachts durch dunkle Gassen läuft, gerät eher in Gefahr, auf zwielichtige Personen zu treffen. Nach wie vor stellen junge Männer die größte Gruppe von Verbrechensopfern dar – weil sie zu sorglos sind und denken, “mir kann keiner”. Am meisten Angst vor Verbrechen haben aber ältere Frauen, obwohl diese statistisch viel seltener Opfer werden.
Opfer sind nie schuld
Kein Opfer ist schuld – das sind immer die Täter. Die entscheidende Frage ist, ob man sich klug verhält, um kein Opfer zu werden oder ob man es drauf ankommen lässt. Und selbst kluges Verhalten garantiert nicht, dass man nicht doch Opfer wird, aber es schränkt die Wahrscheinlichkeit sehr ein.
Wir raten Ihnen dazu, sich klug zu verhalten. Sie können selbst viel dazu beitragen, um sich und andere zu schützen. Indem Sie sich aus seriösen Quellen informieren und nicht jeden Quatsch glauben, der Ihnen über den Weg läuft. Indem Sie höchst vorsichtig auf andere reagieren, die Ihnen “die Wahrheit” versprechen. Indem Sie mehr als höchst vorsichtig auf alle reagieren die andere “zum Sündenbock” machen, die schon “immer alles gewusst haben”. Und vor allem, indem Sie sich selbst verantwortlich zeigen und nicht jedes Gerücht und jeden Schnipsel selbst weiterverbreiten, “weil etwas dran sein könnte”. Sie verhalten sich auch klug, indem Sie Medienvertreter über “Hinweise” informieren und selbstverständlich die Polizei, wenn Sie etwas “beobachten” oder “erfahren”.
Und indem Sie Ihre Lebensgewohnheiten anpassen – das mag “ärgerlich” sein. Aber mal ehrlich? Fahren Sie absichtlich in einen Stau, wenn Sie die Möglichkeit haben, diesen zu umfahren? Nein – sexuelle Übergriffe setzen wir damit nicht mit einem Stau gleich.
In den sozialen Netzwerken wurde die Kölner Oberbürgermeisterin verspottet – wegen “eine Armlänge Abstand”. Dabei hat sie sich nur unglücklich ausgedrückt. Dieser Abstand ist ein Element von vielen, dass die Polizei beispielsweise empfiehlt, wie man durch eigenes Verhalten Schaden abwehren kann. Nicht mit Erfolgsgarantie, aber einer Möglichkeit, die man nutzt.
Jeder von uns hat “Kreise” – ob Familie, Kollegen, Vereine oder sonstige Zirkel. Wir alle sind mit anderen Menschen verbunden. Das ist gut so, kann aber auch dazu führen, dass man nur noch das sieht, was die Gruppe und hier die “Meinungsführer” sehen.
Es gibt Debatten, die muss man nicht führen
Nicht die, die nur bei anderen Fehler sehen und darauf herumreiten, sind nützlich für die Gesellschaft, sondern ausschließlich die, die Fehler erkennen, analysieren und versuchen, Lösungen zu finden.
Achten Sie darauf, ob eine Debatte überhaupt sinnvoll geführt werden kann. Wenn die Prämissen nicht stimmen, ist das nie der Fall. Wenn von vorneherein der Sündenbock feststeht, erübrigt sich jede Debatte. Wenn jemand vorgibt: “Die müssen weg”, dann ist das unlösbar. Erstens, weil “die” nicht definiert ist und zweitens, weil die Sachverhalte eben komplexer sind und man nicht mal eben hunderttausende von Menschen “wegmachen” kann.
Beispiel Abschiebung. Es zeichnet sich ein großer Konsens ab, kriminelle Flüchtlinge abschieben zu wollen. Doch wie realistisch ist das? Darf man eine Person in ein Land abschieben, wenn man davon ausgehen muss, dass diese Person dann sterben muss – mal vollkommen außer acht gelassen ob durch Bomben oder eine Hinrichtung? Wäre das nicht eine Art ausgelagerte Todesstrafe? Was also tun, wenn diese Gefahr für diesen Menschen realistisch droht? Ist nicht auch ein Krimineller letztlich immer noch Mensch oder hat er seine Menschenrechte verwirkt?
Die letzte Frage war nicht ernst gemeint: Wir würden beispielsweise mit niemandem debattieren, der die Menschenrechte in Frage stellt und bereit wäre, einen Menschen in den sicheren Tod zu schicken.
Denn dann würden wir alles in Frage stellen, was unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ausmacht.