Viernheim/Rhein-Neckar, 13. Juni 2013. (red/ld) Ein Jahr länger zur Schule gehen: Das wollen die Schülerinnen und Schüler der Alexander-von-Humboldt-Schule (AvH). Im vergangenen Dezember hat die Schulleitung den Antrag für die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium (G9) gestellt und darin auch beantragt, die 65 Schülerinnen und Schüler der drei bestehenden fünften Klassen mitzunehmen. Seit der Änderung des Hessischen Schulgesetzes im Dezember 2012 ist das nicht mehr möglich. Deshalb erging der Antrag der Schulleitung vor diesem Termin. Im April dann die Entscheidung: Antrag abgelehnt, wegen eines Formfehlers. Nachreichen nicht möglich. Die Eltern sind stinksauer. Sie sehen sich einer Behördenwillkür ausgesetzt.
Von Lydia Dartsch
Wenn ich als Bürger einen Antrag stelle und ein Dokument dazu vergesse, werde ich normalerweise von der Behörde dazu aufgefordert, die fehlenden Unterlagen nachzureichen,
sagte Dorothee Heimes, Vorsitzende des Schulelternbeirats der Alexander-von-Humboldt-Schule bei einer Pressekonferenz der Eltern am Montagabend in einem Viernheimer Restaurant. Die Schülerinnen und Schüler hatten Plakate gemalt: “Warum wurden wir nicht gefragt?” oder “Ich will G9 – Weil: Ich will auch Freizeit und Freunde. Ich brauche mehr Zeit zum Lernen und für meinen Sport” steht darauf.
Was war passiert? Ab dem kommenden Schuljahr können die Gymnasien in Hessen wieder zu G9 zurückkehren. Dazu muss die Schule einen entsprechenden Antrag stellen und die Schulkonferenz – also Lehrer, Eltern und Schülervertreter – muss den Wechsel mehrheitlich beschließen.
Mit dem Beschluss der Schulkonferenz am 20. November hatte die AvH am 07. Dezember den Antrag zur Rückkehr zu G9 für die neuen fünften Klassen gestellt. Dem Antrag beigelegt war der Beschluss der Eltern der Fünftklässler auch ihnen G9 zu ermöglichen, wenn sie im Herbst in die sechste Klasse kommen. Sie hatten in einer anonymisierten Abstimmung für den Wechsel zu G9 votiert – einstimmig.
Dieses Anliegen der Eltern kam auf, nachdem wir den Beschluss in der Schulkonferenz gefasst hatten. Ich war überrascht, dass die Eltern der fünften Klassen einstimmig dafür waren, dass auch ihre Kinder zu G9 wechseln sollen,
sagte die Schulleiterin Cornelia Kohl auf unsere Anfrage. Sie habe ihre Unterstützung bei dem Vorhaben zugesagt.
“Formfehler” führt zur Verzweiflung
Die bestehenden Klassen mitzunehmen war formal rechtlich bis zum 18. Dezember möglich. Dann wurde das Hessische Schulgesetz dahingehend geändert, dass bestehende fünfte Klassen nicht mehr auf G9 umgestellt werden können.
Das Staatliche Schulamt und der Kreis Bergstraße ließen sich mit der Bearbeitung des Antrags Zeit. Vier Monate. Erst kurz vor den Osterferien habe die Schulleitung die Eltern über einen Anruf der Behörden informiert und ihnen mitgeteilt, dass die Umstellung der bestehenden fünften Klassen auf G9 abgelehnt worden sei. Später habe es einen schriftlichen Bescheid gegeben, auf Drängen der Eltern, wie sie sagen.
Der Grund für die Ablehnung: Es fehlt ein gesonderter Beschluss der Schulkonferenz für das Anliegen der Eltern und Schüler. Diesen nachzuholen sei wegen des geänderten Gesetzes nicht mehr möglich:
Weil wir von dieser Gesetzesänderung wussten, haben wir angeregt, dass der Antrag noch vor der Gesetzesänderung gestellt wurde,
sagte Frau Heimes.
Alle Eltern sind für G9 – das Schulamt stellt sich stur
Die Eltern fühlen sich gegängelt von den Behörden. Sie sind fassungslos über so viel behördliche Sturheit. Sie reden von Willkür. Sie verstehen die Welt nicht mehr. Die Behörden berufen sich neben der geänderten Gesetzeslage auf den Bestands- und Vertrauensschutz der Schulen: Die Eltern hätten ihre Kinder für das G8 angemeldet, deshalb müsse das beibehalten werden. Basta. Schluss der Debatte.
Uns fehlen die Alternativen in Viernheim und Umgebung. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich mein Kind an einer Schule mit G9 angemeldet. Aber in Mannheim bietet das nur die IGMH an und die nächste Schule wäre in Frankfurt.
sagte Andrea Marschall-Schneider, Mutter einer Fünftklässlerin. Die Frau ist empört. Wie die anderen auch.
Man versuchte, den Formfehler zu beheben und hatte zwischenzeitlich einen entsprechenden Beschluss der Schulkonferenz gefasst: Zurück zu G9. Für das staatliche Schulamt und den Landkreis Bergstraße ist das ohne Relevanz.
Ob dieser gesonderte Beschluss in der Schulkonferenz überhaupt nötig sei, darüber herrscht Uneinigkeit. Schließlich habe man bei der Antragstellung die Mitnahme der fünften Klassen gleich mit beantragt, den Beschluss in der Schulkonferenz gleich mit gefasst, sagte Jens-Uwe Mietzner, Vater einer Schülerin und juristischer Beistand des Schulelternbeirats.
Die Zeit drängt
Am 08. Juli beginnen die Sommerferien. Am 19. August ist der erste Schultag. Bis dahin muss entschieden sein, ob die Kinder nach der 12. oder der 13. Klasse ihr Abitur ablegen. Für die Schule sei die Umstellung kein großer Aufwand, sagte Cornelia Kohl:
Das muss eine Schule leisten können.
Für die Kinder wäre eine solche Umstellung nur noch jetzt möglich. Nach G8 würden sie schon im nächsten Schuljahr eine neue Fremdsprache lernen. Nach den Regelungen des G9 wäre das erst in der siebten Klasse der Fall. Laut der Eltern würden das auch die Sprachlehrer befürworten. Die Kinder hätten mehr Zeit, die erste Fremdsprache zu festigen.
Auch für die Kinder der Realschule wäre die Umstellung der bestehenden Klassen auf G9 von Vorteil. Der Wechsel vom Realschulzweig auf den Gymnasialzweig in der siebten Klasse würde für sie einfacher werden. Nach dem bestehenden System haben diese Schüler in der zweiten Fremdsprache ein Jahr Rückstand.
Ich finde es wichtig, dass diese Wechselmöglichkeit besteht. Durchlässigkeit ist ein zentrales Merkmal kooperativer Gesamtschulen,
sagte Frau Kohl auf unsere Nachfrage. Für sie ist die Entscheidung der Behörden aber bindend. Daher sei seitens der Schule auch niemand bei der Pressekonferenz der Eltern dabei gewesen.
Eine für alle – das Verwaltungsgericht muss entscheiden
Ihre ganze Hoffnung richten die Eltern und Schüler jetzt auf das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Darmstadt. Dort hat Rechtsanwältin Adelheid Viesel einen Antrag auf eine einstweilige Anordnung gestellt. Sie vertritt eine betroffene Schülerin – stellvertretend für alle 65 Schülerinnen und Schüler. Hat die Anwältin damit Erfolg, können sich die anderen darauf berufen.
Wenn alle Eltern die Umstellung auf G9 wollen, ist es eigentlich albern, auf Formalitäten herum zu reiten,
argumentiert sie. Auf den Beschluss des Gerichts werden die Anwältin und die Schüler noch zwei bis drei Monate warten müssen schätzt sie. Die dafür nötigen Unterlagen habe sie erst in der vergangenen Woche vollständig von der Schulleitung bekommen – das Zusammenstellen habe sich wegen der Pfingstferien verzögert. Ob ein Beschluss ergeht und wie das Gericht entscheidet, will sie nicht einschätzen.
Wahlfreiheit durch Gesetzesänderung?
Eine zweite Lösung bietet sich jetzt auch durch einen Vorstoß von Landrat Matthias Wilkes. Er hat einen Gesetzesvorschlag formuliert, der noch in den Landtag eingebracht und über den möglichst bald entschieden werden muss. Dafür habe er bereits Absprachen mit Landtagsabgeordneten getroffen:
Ich habe großes Verständnis für das Wechselbegehren der Eltern zurück zu G9. Dies entspricht ja der politisch propagierten Wahlfreiheit. Die Behörden sind jedoch an die gesetzliche Regelung gebunden, die der Landtag geschaffen hat,
sagte er auf unsere Anfrage. Er rechne damit, dass die Gesetzesänderung noch rechtzeitig erfolgen werde:
Da ich davon ausgehe, dass der Landtag sich in dieser Angelegenheit einig ist und es eigentlich keinen Grund gibt, dem Antrag zu widersprechen, kann das Verfahren sehr schnell laufen. In jedem Falle muss aber erreicht werden, dass die Rückkehr zu G9 mit Beginn des Schuljahres im Sommer 2013 stattfinden könnte.
Gleicher Lernstoff in weniger Zeit
Mit der Einführung des achtjährigen Gymnasiums im Schuljahr 2004/2005 haben Gymnasiasten ein Jahr weniger Zeit, den selben Stoff zu lernen wie im neunjährigen Zug. Für die Schülerinnen und Schüler bedeutet das Ganztagsunterricht, weniger Freizeit und mehr Stress. Mit der Rückkehr zu G9 wolle man den Lernalltag der Kinder entschleunigen, sagte Frau Kohl:
Die Schulzeit ist für die Entwicklung eines Kindes eine entscheidende Phase, die sie für das Leben prägt. Sie haben dann die Zeit, etwas auszuprobieren. Das ist mit G8 nicht in dem Maße möglich, wie mit G9,
sagte Frau Kohl. Zu schlechteren Noten führe das aber nicht. Auch sei die Schule bestrebt, den Unterricht zu rhythmisieren – also sogenannte “harte Fächer” wie Mathematik, Englisch oder Deutsch mit “weichen” Fächern wie Musik, Bildende Kunst und Sport abzuwechseln. Das müsse aber jede Schule selbst gestalten, sagte Schulleiterin Cornelia Kohl.