Mannheim/Rhein-Neckar, 10. Oktober 2013. (red/pro) Über Mannheim hängt ein schwarzer Mantel der Trauer. Die Menschen sind fassunglos. Die Mienen versteinert oder verheult. Die Blicke voller Schmerz. Tausende Menschen haben sich heute an dem Trauermarsch vom Schloss zum Tatort unter der Kurt-Schumacher-Brücke beteiligt, um Gabriele Z. und deren Familie ihre persönliche Kondolenz zu erweisen.
Von Hardy Prothmann
“Mama, was ist hier?”, fragt eins von zwei kleinen Mädchen. Sie laufen gerade an den Händen der Mutter den engen Weg hoch. Rechts stehen rund 50 Menschen. Alte, junge, Deutsche und Ausländer. Links stehen mehrere Dutzend Grablichter, Blumen, Kränze, Fotos, Abschiedgrüße. “Hier ist was ganz, ganz Schlimmes passiert”, sagt die Mutter und das Kind fragt: “Was?”
Das Mädchen versteht nicht, was los ist. Ihre Mutter schluckt. Was das “ganz Schlimme” sein soll? Niemand versteht, warum Gabriele Z. hier sterben musste. Niemand hier versteht das “ganz Schlimme”. Und doch ist es passiert.
Hier ist Gabriele Z. gestorben. Sie wurde umgebracht. In der Nacht vom dritten auf den vierten Oktober 2013. Wann genau, weiß die Polizei nicht.
Gerade 20 Jahre alt, bildhübsch. Beliebt und der Stolz ihrer armen, litauischen Eltern. Die Austauschstudentin war erst wenige Wochen in Mannheim. Um ihr Wissen zu erweitern. Um gut zu werden. Um sich eine Chance im Leben zu erarbeiten. Dafür ist sie nach Mannheim gekommen.
Irgendwann nachts.
Und hier hat sie ihr Leben verloren. Irgendwann nachts. Kalt und im Regen. In einer der schmuddeligsten Ecken der Stadt.
“Dass sie ausgerechnet hier,…”, sagt ein Mann und lässt den Rest offen. Als würde das eine Rolle spielen. Kann es etwa einen “schönen” Ort geben, um Opfer eines Sexualmords zu werden? Sicher nicht.
Die Stadt war so pietätvoll, den Tatort, so gut es ging, herzurichten. Gestrüpp und Müll wurden entfernt. Das Erdreich gerecht. Ein ehrlicher Versuch, diesem traurigen Platz mehr Würde zu geben. Aber es bleibt ein trauriger Ort. Eine Ecke des Abgrunds.
Im Schloss sammeln sich die Menschen bis der Platz nahezu voll ist. Es gibt Ansprachen. Dann ziehen die Menschen durch die Stadt zum Tatort. Zu diesem Schock für die ganze Stadt. Der sprachlos macht. Das Mitgefühl der vielen Menschen ist überwältigend. Man wäre so gerne froh darüber. Aber alles ist einfach nur traurig. Gemein. Unberechenbar. Willkürlich. Brutal. Erschütternd.
Alle nehmen teil.
Als der Tross der Trauernden in der unwirtlichen Passage an der Station Rheinstraße auftaucht, ist es, als würde die Stadt mausestill werden. Kaum jemand sagt ein Wort, wenn, wird geflüstert. Auch die Kinder fragen nicht mehr, sondern orientieren sich an ihren Eltern und gucken genauso traurig. Nebendran braust der Verkehr, der sonst ohrenbetäubend ist. Man hört ihn nicht mehr angesichts dieser Stille.
Der Oberbürgermeister, der Universitätsrektor, andere öffentliche Vertreter nähern sich vorneweg. Behutsam. Andächtig. Still. Die Gesichter sind angespannt eingefroren. Die Rücken steif. Die Schultern hochgezogen. Als müssten sie sich schützen. Gegen dieses unfassbare Verbrechen, das hier Gabriele Z. angetan worden ist.
Sie stehen lange. Bedächtig. Wer Beerdigungen kennt, weiß, dass viele dort oft nur die Etiquette wahren. Gabriele Z. hat hier keine Verwandten. Sie hatte nur wenige Wochen Zeit, um Bekanntschaften zu schließen. Zu wenig Zeit für gewachsene Freundschaften. Sie war ihm Ausland, fern der Heimat. Fern der Familie. Sie kannte nur wenige Menschen. Ob sie den, der sie umgebracht hat, kannte oder nicht, weiß die Polizei noch nicht.
Ihre Mutter und ihre Bruder sind gekommen. Sie wissen nur, dass ihre Gabriele tot ist. Und sie werden versuchen, sie zu sich zu holen. Sie zu bestatten und in ihrer Erinnerung leben zu lassen.
Obwohl kaum jemand Gabriele Z. kannte, stehen alle hier sehr lange vor den Kerzen und Blumen. Niemand drängt von hinten. Man rückt nach, wenn die Menschen davor ihr Mitgefühl für Gabriele Z. gegeben haben. Die meisten gehen danach weiter. Andere drehen sich nochmal um, bleiben stehen, gehen ein paar Schritte. Jeder nimmt anders teil.
Tränen in den Augen.
Plötzlich taucht ein Fotografenkollege vor mir auf. Das Wasser steht ihm in den Augen. Man sieht ihm an, dass er schon geweint hat und mit der Fassung kämpft. Dabei ist er eigentlich einer, der schon fast alles erlebt hat. Viele schreckliche Dinge. Kurz nach der Tat habe ich ihn hier getroffen. Als nur zwei Grablichter und ein paar Blumen bereits gebracht worden waren. Man hat sich professionell und mit Distanz zur Tat über Informationen und Gedanken ausgetauscht. Angesichts dieser Menge an Menschen überwältigen ihn die Gefühle. Jeder nimmt anders teil.
Tatsächlich haben aber die meisten hier Tränen in den Augen und beherrschen sich mit der Überzeugung, dass sie hier für sich und andere ein Zeichen setzen wollen. Der Trauer. Der Anteilnahme.
Andere fallen auf, weil sie nicht auffallen. Sie stehen abseits in guten Positionen. Ernste Gesichter auch hier. Aber die Augen suchen. Beobachten. Ist er hier? Der Mörder von Gabriele Z.? Hat er sich unter die Trauernden gemischt? Oder steht er irgendwo und guckt zu? Den allermeisten dürften die Zivilfahnder nicht auffallen. Auch sie schauen immer mal wieder betroffen.
Wer ist der Täter?
Wonach sollen die Kriminalbeamten suchen? Die Polizei hat bislang noch keine heiße Spur. Eine DNA – aber die erkennt man in keinem Gesicht. Ist der Täter alt oder jung, groß oder klein, dick oder dünn? Niemand weiß es bis jetzt.
Der Trauermarsch ist still und leise. Die Gedanken und Gefühle gelten Gabriele Z. Anders als die Polizisten, die ihren Job tun, widmet man dem Täter hier keine Aufmerksamkeit. Niemand weiß, ob er die Aufmerksamkeit genießt. Er hat sie nicht. Denn alle sind in Gedanken nicht bei ihm, sondern bei Gabriele Z.
10.000 Euro Belohnung, die zur Ergreifung des Täters führen, hat die Staatsanwaltschaft ausgelobt. Über 50 Kriminalbeamte bearbeiten den Fall in der Sonderkommission Cäsar (wegen des C-Quadrats). Der Erfolgsdruck, der auf der Polizei lastet, ist enorm. Die Spurenlage hingegen desolat.
Die Polizei ermittelt “in alle Richtungen”. Was hat der Täter vor und nach der Tat gemacht? In welche der vielen möglichen Richtungen hat er den Tatort verlassen? Hat ihn jemand gesehen und kann ihn beschreiben? “Anhaltspunkte” liefern? Einen Anfang, um alle erdenklichen Ermittlungsmethoden anzuwenden, um den Täter zu fassen.
Denn auch darüber reden die Menschen, wenn sie sagen: “Wir schrecklich…”. Die Frauen schauen ebenso betroffen, wie die Männer. Aber doch anders. Und die Mütter nochmals anders.
Wirkliche Angst ist nicht zu spüren. Aber allergrößte Sorge. Um sich, um andere. Die Menschen wissen, dass der Mörder frei herumläuft. Aber in der Stadt? Vielleicht war er auch auf der “Durchreise”? Vielleicht waren es auch mehrere? Keiner weiß es.
Niemand weiß warum.
Auch aus dem Jungbusch sind viele Menschen gekommen. Hier im Stadtteil hatte die junge Frau ein Zimmer bezogen. Der Junbbusch ist eine harte Gegend. Einigen, die hier leben, sieht man an, dass sie schon viel durchgemacht haben. Sie reagieren wie alle anderen fassungslos über die Tat und fassungsvoll mit anteilnehmendem Respekt vor Gabriele Z.
“Warum ist die Frau gestorben, Mama?”, fragt das kleine Mädchen die Mutter, die lange auf der gegenüberliegenden Seite an der Zeremonie teilnimmt. Die Mutter zögert und sagt: “Ein böser Mensch hat sie umgebracht. Niemand weiß, warum.”
Das Mädchen sagt: “Das ist echt schlimm. Und alle sind jetzt so traurig.”