Heidelberg, 06. Mai 2016. (red/nh) “Ab nach Auschwitz, Türkenpack”, sagt ein Mann zu einem Kind. Haben Sie das gehört? In 22 zum Teil quälenden Szenen entwirft der Berliner Dramatiker Dirk Laucke eine schmerzende und ohrenbetäubende Rassismus-Collage. Augenzeugenberichte und Zeitungsartikel waren die Basis dieser Studie “über die gefährliche Kontinuität rechten Denkens mitten in unserer Gesellschaft”. Das Stück “Furcht und Ekel – Das Privatleben glücklicher Leute” hat den Nachspielpreis im Rahmen des Heidelberger Stückemarkts gewonnen. Vergangenen Mittwoch wurde das Stück im Zwinger¹ aufgeführt. Wie alltäglich ist Rassismus?
Von Naemi Hencke
Eine Szene in der Straßenbahn. An einem x-beliebigen Tag. Es ist früher Nachmittag und die Bahn ist voll. Sie haben keinen Sitzplatz mehr bekommen und müssen stehen. Ein paar ausländisch aussehende Jugendliche machen einen auf dicke Hose, hören laute Musik auf ihren Handys und lachen. Irgendwie nervig – haben die keinen Anstand? Sie sind ja schließlich nicht allein in diesem Zug. Ein älterer Mann scheint sich ebenfalls gestört zu fühlen – er sagt:
Ab nach Auschwitz, Türkenpack.
Was löst das in Ihnen aus? Sagen Sie etwas? Hören Sie weg? Drehen Sie sich um? Nichts gehört, nichts gesehen, nichts mitbekommen?
Warum auch etwas sagen? Was sollte das verändern? Ist es überhaupt eine Angelegenheit, in die man sich einmischen darf? Man will sich doch nicht streiten. Und die nächste Station muss man ja eh aussteigen.
22 alltägliche Szenen
Szenen wie diese spielen sich Tag für Tag ab. Der Dramatiker Dirk Laucke beschreibt – basierend auf Augenzeugenberichten und Zeitungsartikeln – 22 deutsche Szenen, die sich im Laufe des Abends zu einer beklemmenden, regelrecht schmerzhaften Collage des alltäglichen Rassismus zusammenfügen.
Der Lärm ist schon da, bevor die Zuschauer den Saal betreten. Noch während sie ihre Sitze suchen, schwellt die Geräuschkulisse zunehmend an.
Es dröhnt. Es rattert. Ohrenbetäubend. So laut, dass sich das Publikum die Ohren zuhält. Jaulende Motorengeräusche. Alltäglicher Krach – irgendwie bekannt, nicht genau definierbar, seltsam befremdlich. Verstörend.
Von Nazi-Töchtern und Gartenzwergen
Charaktere und Handlungsorte wechseln sprunghaft. Die Szenen fließen ineinander über, ohne dass sich dabei Grenzen eindeutig ausmachen lassen.
Ein schwelender Ehestreit. Die Tochter ist den Eltern ganz offensichtlich entgleist – sie hat Nazi-Lektüre im Regal, googelt Anleitungen für Brandsätze im Internet und ist womöglich für den Tod eines armenischen Familienvaters verantwortlich. “Vielleicht hat sie nur eine Geschichte geschrieben”, meint der Vater, unbeholfen und naiv. “Und wo ist sie jetzt?”, schreit die Mutter wutentbrannt.
Intellektuellen-Volk, Gutmenschen- und Zigeunerpack, tschechische Naziprolls, sicherheitsliebende Beamte und einseitige Journalisten. Mitläufer, vorurteilsbeladene junge Frauen, die klassische Musik studieren, dönerfressende Vorort-Assis in weißen-Sportsocken-über-Jogginghose. Müller-Milchreis-essende Arbeitnehmer in der Pause. Und nicht-wissende Eltern. Die Palette der Porträts ist breit – und selten “vorteilhaft” gezeichnet.
Eine Frau in schwarz-rot-gold gekleidet befriedigt sich mit ihren Gartenzwergen und und gebärt eine Deutschlandflagge. Plump? Ja. Aber auch plumper als das Bild des stehlenden Polen? Des ungebildeten Rumänen, der nur nach Deutschland kommt, um beim Sozialstaat zu schmarotzen? Des analphabetischen “Asyltouristen”?
Kinderficker und Schuluntersuchungen
Rainer ist ein “Kinderficker”. Danny, Rille und Micha wollen Gerechtigkeit. Sie schlagen Rainer nieder. Drücken ihre Kippen auf ihm aus. Ziehen ihm eine Tüte über den Kopf. Blutverschmierte Gesichter. Im Blutrausch der brachialen Orgie heißt es:
Kratz mir ja noch nicht ab, Hoppelhäschen.
Tomas wird auf eine Sonderschule geschickt. Eigentlich ist er außerordentlich intelligent. Doch er ist Roma. Trotz seines Alters zwar schon klüger als sein drei Jahre älterer Bruder und bald auch als sein Vater. Aber er wird als “problematisch” eingeschätzt. Das geschieht schnell mit Roma-Kindern bei der amtsärztlichen Schuluntersuchung. Nicht viel nachdenken, das Häkchen setzen – und ins Nirgendwo abschieben.
Brisanz, Brisanz, Brisanz!
Noah ist allein. Der Bademeister sucht die Eltern, doch er wird nicht fündig. Haben sie das Kind einfach vergessen? Er entschließt sich, das Findelkind am Abend mit nach Hause zu nehmen. Die Geschichte des Kindes berührt ihn. Das Schicksal des Kindes eröffnet ihm einen Weg heraus aus seiner emotionalen Gefühlsstarre, in die er fiel, seitdem seine Frau gestorben ist.
Die Geschichte spielt im Gaza-Streifen. Doch das ist nicht genug. Nicht brisant genug. Besser sei es, wenn Noah ein Palästinenser-Kind gewesen wäre, meint der kritische Dramaturg auf der Bühne. Doch der Vortragende wendet ein:
Warum? Jedes Kind im Gaza-Streifen weiß, wie es sich die Gasmaske aufsetzt oder wo der nächste Bunker ist. Warum sollen nicht auch schöne Geschichten erzählt werden?
Doch als ob sich Dirk Laucke beim Schreiben des Drehbuchs selbst gefragt hätte, wie man noch härter provozieren kann, merkt nun am Ende des Stücks ein Dramaturg auf der Bühne an, dass es der Geschichte definitiv und auf jeden Fall an Brisanz fehle. Die Geschichte sei langweilig. “Solche Geschichten will doch keiner hören”, findet der Dramaturg.
Das Theater soll die Augen für die Wirklichkeit öffnen, wir wollen ja nicht kuscheln.
Was sollen wir denn ändern?
“Das können wir heute nicht erörtern. Wir machen eine Projektwoche dazu”, so der Dramaturg auf der Bühne. Genau in diesem Moment wird spätestens klar: Eineinhalb Stunden Theater reichen definitiv nicht aus, das durch das Land wabernde Rassismus-Ekelpaket zu enthüllen, zu verstehen und Lösungen zu präsentieren. Auch eine Woche würde wahrscheinlich nicht genügen. Denn Rassismus ist – in seinen Nuancen und Ausprägungen – so vielfältig wie die Menschen selbst.
Nichts gesehen. Nichts gehört. Nichts gesagt.
Das Stück hinterlässt Spuren. Gedanken kreiseln. Gefühle liegen quer. Die Geschichten erklären nicht die Warums.
Das Stück hat keine klare “Moral von der Geschicht” – es ist ein bloßer Status Quo. Ein Protokoll des Jetzt. Es zeigt schonungslos die unterschiedlichsten Facetten nationalistischen Denkens, das durch alle sozialen Schichten unserer Gesellschaft wabert. Entlarvt Aggressivität und Gleichgültigkeit, die auch im größten Humanisten wirken.
Sie verbergen sich hinter roher Gewalt ebenso wie hinter dem Zuziehen der Gardinen. Nichts gesehen. Nichts gehört. Nichts gesagt.
War da was? Was soll da denn gewesen sein? Hätten Sie in der Bahn etwas gesagt?