Mannheim, 04. Mai 2016. (red/ms) Der Mannheimer Gemeinderat stimmt fast einstimmig einer Erklärung über das eigene Selbstverständnis zu, die Respekt und gegenseitige Wertschätzung fördern soll – aber nicht, ohne sich vorher gegenseitig zu beleidigen und abzuwerten. Das ging so weit, dass ein SPD-Oberbürgermeister unter sichtlichem Unbehagen einen ehemaligen AfD-Stadtrat gegen eine Linke in Schutz nehmen musste.
Kommentar: Minh Schredle
Eigentlich erschien es, als würde die Abstimmung binnen weniger Minuten von statten gehen können. Die Wortmeldungen von Dirk Grunert (Die Grünen) und Marianne Bade (SPD) blieben kurz und kompakt und brachten im Wesentlichen zum Ausdruck, dass man sich freue, nun die überarbeitete Version der “Mannheimer Erklärung” verabschieden können.
Erwartung und Vorurteil
Dann aber meldet sich Eberhard Will (ehemals AfD, heute ALFA) zu Wort – und schon bevor er überhaupt anfängt zu reden, geht ein Raunen durch den Sitzungssaal.
Tatsächlich sorgen die Aussagen von Herrn Will für Aufregung: Er wolle der Erklärung zwar zustimmen. Der Entwurf habe aber etwas “Absolutäres” und “kein einziger der vorhandenen Konflikte” werde “durch so ein Papier verschwinden”:
Diskriminierung, Sexismus und Homophobie kommen vor, gar keine Frage. Aber – und da machen wir uns nichts vor – diese Probleme sind zu einem wesentlichen Anteil importiert.
Die Parteien im Bundestag würden “seit Jahren darauf hinarbeiten”, “die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung Schritt für Schritt zu verändern”:
Sie verfolgen dabei kein Ziel. Aber sie nehmen die Folgen in Kauf.
Es müsse gelingen, ein Stadtklima zu schaffen, in dem alle zufrieden sind: “Nicht nur die, die Integration zu ihrer Lebensmission machen – sondern auch diejenigen, die sich vor einer Überfremdung fürchten und sich in ihrer Stadt nicht mehr zuhause fühlen.”
Auf die Beleidigung folgt die Beleidigung
Die Rhetorik ist genau überlegt und enthält provokante Unterstellungen – das ist offensichtlich. Und dennoch rechtfertigt dieser Umstand nicht, in der Gegenrede ebenfalls unverschämt und beleidigend zu werden. Das haben nicht alle Stadträte getan – aber einige überschritten bei ihren Entgegnungen klar die Grenzen des guten Geschmacks.
So bezeichnete etwa Gökay Akbulut (Die Linke) Herrn Will nach seiner Wortmeldung als “heuchlerisch, hinterwäldlerisch und rassistisch” – was diese Tonalität in einer Debatte über Respekt und Werte verloren haben soll, führt sie hingegen nicht aus. Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz (SPD) sah sich schließlich genötigt, Herrn Will in Schutz zu nehmen:
Bei allen Divergenzen zu den Äußerungen von Herrn Will, wende ich mich gegen eine inflationäre Verwendung des Begriffes Rassismus und finde ihn hier gegenüber Herrn Will unangemessen.
Dafür gibt es großen Applaus von der Mannheimer Liste, ALFA und Teilen der CDU – nicht allerdings von SPD, Grünen und der Linken. Dennoch werden sich nachher alle für eine Erklärung zum eigenen Selbstverständnis zustimmen, die besagt, “die Bereitschaft zur gegenseitigen Verständigung und zu einem respektvollen Umgang” sei “gerade bei Konflikten unverzichtbar”.
Wie berechtigte Kritik stilvoll funktionieren kann, zeigte Stadträtin Nazan Kapan (SPD), die sehr ruhig, aber sichtlich emotional auf die Äußerungen von Herrn Will entgegnete:
Ein Satz aus Ihrer Wortmeldung trifft mich besonders: Die Bundesregierung importiert ihre Probleme. Wissen Sie, ich bin so ein Importprodukt. Und ich habe hier meine Heimat gefunden.
Es sei sehr verletzend für Migranten, wenn versucht werde, die Schuld für die Probleme eines Landes zu “einem wesentlichen Teil” bei Ausländern und Zugewanderten zu suchen – ganz so als gäbe es keine Beispiele für Homophobie, Sexismus und Diskriminierung in der deutschen Geschichte.
Wortwahl, Assoziation, Kalkül und Bedeutung
In einer zweiten Stellungnahme sagte Herr Will, “die simpelste Form des Respekts läge darin, sich einfach zuzuhören” – und nicht, Formulierungen zu erfinden und ihm Worte in den Mund zu legen, die er gar nicht gesagt habe.
Ich habe nicht gesagt, der Ausländer ist kriminell. Ich habe gesagt, man darf Einwanderung nicht schneller stattfinden lassen, als die Integrationsleistung das aufnehmen kann. Sonst entstehen Parallelgesellschaften, die man nicht mehr einfangen kann.
Herr Will spricht damit einen sensiblen Punkt an – denn dass in Mannheim integrationsfeindliche Parallelstrukturen existieren, kann nicht in Abrede gestellt werden. Das tut genau genommen aber auch kaum jemand – auch in der kommunalen Politik sind die Probleme bekannt und seit Jahren wird an Gegenmaßnahmen gearbeitet.
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“Respektvolle und wertschätzende Verständigung?”
Herr Will kann sich nicht ernsthaft wundern, dass auf seine provokanten Wortmeldungen und Unterstellungen Empören folgt.
Und dennoch ist es höchst bedenklich, wenn Stadträtinnen und Stadträte, die ihre Bereitschaft erklären, sich “aktiv für die gesellschaftliche Akzeptanz, Anerkennung und Wertschätzung vielfältiger menschlicher Identitäten und Lebensentwürfe einzusetzen” und “ein respektvolles Zusammenleben in unserer Stadt” fördern wollen, sich gegenseitig beleidigen, bevor sie fast einstimmig eine Erklärung verabschieden, in der es heißt:
Ein gleichberechtigtes Miteinander gelingt nur, wenn eine respektvolle und wertschätzende Verständigung wechselseitig gelebt wird. Wir wollen hierfür Beispiel gebend sein und einen solchen Umgang in und zwischen unseren Initiativen, Organisationen, Einrichtungen, Vereinen, Unternehmen und Religionsgemeinschaften pflegen. Die Bereitschaft zur gegenseitigen Verständigung und zu einem respektvollen Umgang ist gerade bei Konflikten unverzichtbar. Konflikte versuchen wir im gemeinsamen Gespräch zu klären.
Vielleicht sollte sich mancher im Gemeinderat dieses Bekenntnis zu Herzen nehmen – denn in der jungen Vergangenheit waren viele Debatten von einer unproduktiven Feindseligkeit gekennzeichnet.
Schöne Worte sind schön – aber erst nützlich, wenn ihr Sinn auch wirklich verstanden wird.
Dokumentation der Mannheimer Erklärung für ein Zusammenleben in Vielfalt:
“Die Stadt Mannheim ist in ihrer über 400-jährigen Geschichte überwiegend geprägt von einem
Zusammenleben im Geist der Offenheit und der Verständigung. Dieses Selbstverständnis gilt es zu
bewahren und aktiv fortzuschreiben.
Auf der Grundlage jener weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen, die für das Wohl, die
Achtung und die Freiheit eines jeden Menschen einstehen, besteht die Verpflichtung, ein gelingendes Zusammenleben in einer von Vielfalt geprägten Gesellschaft zu gestalten. Eine notwendige Verantwortung ergibt sich in besonderer Weise durch die historischen Erfahrungen geschehenen Unrechts in unserer Stadt.
Aber auch aktuelle Auswüchse gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit fordern eine Positionierung und ein Engagement, das sich gegen die Ausgrenzung und Herabwürdigung von einzelnen Menschen und Gruppen stellt, wie sie beispielsweise in rassistischen, sexistischen und homophoben Diskriminierungen wirksam werden.
Eine Vielzahl von Mannheimer Initiativen, Organisationen und Einrichtungen, Religionsgemeinschaften und Kirchen, Vereinen und Unternehmen übernimmt bereits seit langer Zeit die Verantwortung, ein respektvolles Zusammenleben in unserer Stadt zu fördern.
Gemeinsam wollen wir, die Unterzeichnenden, im Rahmen eines Bündnisses das breite gesellschaftliche Engagement in unserer Stadt für ein von gegenseitiger Anerkennung und Verständigung getragenes Miteinander zusammenführen. Durch gemeinsame bzw. abgestimmte und öffentlichkeitswirksame Aktivitäten wollen wir das bestehende Engagement sichtbarer machen. Mit diesem Papier erklären wir, die Unterzeichnenden, unser Selbstverständnis als Bündnispartner*innen:
Anerkennung der Gleichberechtigung unterschiedlicher Identitäten und Lebensentwürfe
Im Bewusstsein der unveräußerlichen Würde und der Grundrechte jedes einzelnen Menschen, wie sie
in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ihren Ausdruck finden, anerkennen wir die
Gleichberechtigung vielfältiger menschlicher Identitäten und Lebensentwürfe. Wir erklären unsere
Bereitschaft, uns aktiv für deren gesellschaftliche Akzeptanz, Anerkennung und Wertschätzung
einzusetzen, und fördern somit ein respektvolles Zusammenleben in unserer Stadt.
Engagement gegen Diskriminierung
Das Zusammenleben in unserer städtischen Gemeinschaft bedarf der Pflege, der Fürsorge und des
Engagements aller gesellschaftlichen Kräfte. Wir wollen einen Beitrag leisten für eine
Stadtgesellschaft, die von Inklusion und Solidarität geprägt ist. Niemand darf insbesondere aufgrund der sozialen oder ethnischen Herkunft, der Hautfarbe, des Geschlechts, der geistigen, psychischen oder körperlichen Fähigkeiten, des Alters, der sexuellen oder geschlechtlichen Identität, der Religion oder Weltanschauung herabgewürdigt oder diskriminiert werden.
Förderung der Chancengleichheit
Unsere Überzeugung ist, dass jeder Mensch über individuelle und vielfältige Potentiale verfügt. Wir wollen ein Klima in unserer Stadt schaffen, in dem die Menschen ihre Potentiale bestmöglich entfalten können und einen Zugang zur gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben haben. Eine offene und wertschätzende Auseinandersetzung mit der Vielfalt eines Menschen weitet die jeweilige Perspektive und fördert das gegenseitige Verständnis. In der offenen Begegnung und Verständigung verlieren Vorurteile ihre Kraft und wechselseitiges Vertrauen kann wachsen. Der positive Umgang mit Vielfalt ist bereichernd und kann zusätzlich Impulsgeber für zukunftsfähige Entwicklungen in der Stadtgesellschaft sein.
Grenzen der Toleranz
Die Anerkennung von Vielfalt kann in diesem Verständnis aber nicht grenzenlos sein. Als wesentliches Merkmal unserer freiheitlich demokratischen und pluralistischen Gesellschaft hört Toleranz dort auf, wo sich Einzelne, Gruppen, Institutionen und Strukturen in ihrer Haltung und ihrem Handeln gegen die Werte unseres Grundgesetzes sowie gegen die Werte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte richten. Auf unseren Widerspruch und unseren Widerstand trifft erst recht jeder Aufruf zu Hass, Gewalt und Ausgrenzung.
Gemeinsames Handeln
Ein gleichberechtigtes Miteinander gelingt nur, wenn eine respektvolle und wertschätzende
Verständigung wechselseitig gelebt wird. Wir wollen hierfür Beispiel gebend sein und einen solchen Umgang in und zwischen unseren Initiativen, Organisationen, Einrichtungen, Vereinen, Unternehmen und Religionsgemeinschaften pflegen. Die Bereitschaft zur gegenseitigen Verständigung und zu einem respektvollen Umgang ist gerade bei Konflikten unverzichtbar. Konflikte versuchen wir im gemeinsamen Gespräch zu klären.
Als Unterzeichnende wollen wir im Sinne einer freiwilligen Partnerschaft zusammenwirken und unsere Kräfte zur Gestaltung eines gelingenden Miteinanders verbinden. Unter Einbeziehung bestehender Netzwerke wollen wir uns als Bündnis und im Rahmen unserer jeweiligen individuellen und strukturellen Möglichkeiten für die Anerkennung von Vielfalt und gegen Diskriminierung in Mannheim engagieren. Es ist unser gemeinsames Ziel, den Geist dieser Erklärung in die Breite unserer Stadtgesellschaft zu tragen und ein gleichberechtigtes Miteinander in Vielfalt zu fördern.”