Mannheim, 04. Februar 2015. (red/ms) Mehmet C. muss sich wegen versuchten Totschlags und anderer Delikte vor Gericht verantworten. Bei einer Massenschlägerei im Jungbusch im Juni 2014 hat er mindestens vier “scharfe” Schüsse Kaliber 7,65 abgefeuert – dabei wurde niemand verletzt. Handelte es sich, wie er selbst behauptet, um Notwehr? Hat C. sein Ziel lediglich verfehlt? Am 03. Februar startete der Gerichtsprozess. Bislang sind noch viele entscheidende Details ungeklärt.
Von Minh Schredle
Der Angeklagte Mehmet C. ist 26 Jahre alt. In Ludwigshafen geboren, aber türkischer Staatsangehöriger. Die Haare an den Seiten seines Kopfes kurz geschoren, das Mittelhaar ist länger und sorgfältig zurückgegelt. Er trägt einen Bart, der aufwändig zurecht gestutzt ist. Er legt Wert auf ein gepflegtes Äußeres.
Er betritt den Gerichtssaal in einer geduckten Haltung, die Schultern stehen vor, der Kopf ist zu Boden geneigt. Dann schaut er kurz auf – und lächelt. In Richtung seiner ältesten Schwester, die aus der Türkei angereist ist und im Publikum sitzt. Dann schaut er wieder zu Boden.
Tatvorwurf: Eine Reihe von Delikten
Oberstaatsanwalt Dr. Reinhard Hofmann verliest die Anklage – und C. wird eine ganze Reihe von Delikten vorgeworfen: Versuchter Totschlag, gefährliche Körperverletzung, Sachbeschädigung und unerlaubter Waffenbesitz.
Am 13. Juni des vergangenen Jahres kam es zu einer Massenschlägerei mit mehreren Dutzend Beteiligten im Jungbusch. Die genauen Umstände sind derzeit noch unbekannt.
Fest steht aber: Es handelte sich um den Konflikt zwei türkischer Großfamilien, die an dem Tag mehrfach aneinander geraten sind, bis die Spannungen in einer Gewaltorgie eskalierten, bei der mindestens elf Menschen verletzt worden sind.
Angeklagter gesteht einen Teil der Vorwürfe
Mehmet C. gehört keiner der beiden Familien an – aber er ist der Einzige, der mit einer scharfen Waffe geschossen hat. Allerdings erst im Anschluss an die eigentliche Schlägerei.
Verletzt wurde durch die Schüsse niemand. Eine der Kugeln traf jedoch auf 1,84 Metern Höhe einen Rolladen – die hätte auch leicht einen Menschen dieser Größe treffen und töten können.
Mehmet C. gesteht ohne zu zögern ein, dass er geschossen hat, obwohl er keinen Waffenschein besitzt. Er behauptet, er habe “Warnschüsse” abgegeben, weil er sich verteidigen wollte. Er habe “um sein Leben gefürchtet”.
Die Lebensgeschichte von Mehmet C.
Bevor sich der Angeklagte allerdings zu den Tatvorwürfen äußert, befragt ihn der vorsitzende Richter, Dr. Ulrich Meinerzhagen, über seinen Lebenslauf.
Als er zwei oder drei Jahre alt war, hätten seine Eltern sich getrennt, erzählt Mehmet C. Sein Vater, ein Isolierer in Frührente, sei dann in die Türkei zurückgekehrt. Er sei dann als jüngstes von fünf Geschwistern bei seiner Mutter aufgewachsen. Die Familie lebte von Sozialhilfe.
Mehmet C. hat nie eine Ausbildung angefangen. Die Hauptschule hat in der achten Klasse abgebrochen. Später habe er dann mal versucht, seinen Abschluss nachzuholen. Das sei aber “nicht so gut gelaufen”. Damals sei er noch “zu jung und zu naiv” gewesen.
Drogen”karriere”?
Er habe bislang nur einmal im Leben ernsthaft gearbeitet, sagt Mehmet C. Und zwar als Pflasterer. Er sei aber nach kurzer Zeit nicht mehr so oft hingegangen, weil er die Zeit lieber zuhause verbracht hätte.
C. hatte früh Kontakt zu Drogen. Mit 13 habe er die ersten Erfahrungen mit Alkohol gemacht. Er habe allerdings noch nie in seinem Leben regelmäßig getrunken – aber Cannabis geraucht. Das habe er auch “mit so 13 oder 14 Jahren” angefangen und seitdem “eigentlich alle zwei, drei Tage mal was geraucht”.
Später kamen dann “noch ein paar andere Sachen” dazu. Unter anderem Kokain. Alle paar Wochenenden mal zwei oder drei Gramm, sagt er. Richter Meinerhagen fragt sich, wie er sich in seiner finanziellen Lage einen regelmäßigen Konsum leisten kann. Mehmet antwortet: “Über Freunde”.
Angeklagter ist vorbestraft
Der Angeklagte ist bereits wegen Körperverletzung vorbestraft. 2014 wurde er zu einem Jahr Haft verurteilt, wurde aber bereits nach neun Monaten wegen guter Führung entlassen. Auch zuvor gab es schon ein paar kleinere Delikte und Ordnugnswidrigkeiten.
Auch am Tag der Tat hat Mehmet C. seiner Aussage zu Folge Drogen konsumiert. In der Nacht auf den 13. Juni habe er Kokain gezogen. Die letzte Nase gegen 03:00 Uhr. Später am Tag, etwa gegen 17:00 Uhr, habe er noch einen Joint geraucht.
Dann habe ihn sein Freund Osan (Name geändert) angerufen. Dessen Bruder stecke in Schwierigkeiten, daher brauche er C.s Hilfe. Mehmet sagte, er habe “wirklich keine Lust gehabt, da hinzugehen”. Aber er hätte seinen “Kumpel nicht einfach im Stich lassen können” – zumal es sich nach “etwas Ernstem” angehört haben soll. Deswegen hätte er auch die Waffe mitgenommen.
“Die Pistole war eine Vorsichtsmaßnahme”
Zu diesem Zeitpunkt habe er, seiner Aussage nach, noch gar nichts von den genauen Umständen gewusst. Aber im Jungbusch laufe “ja eh jeder Zweite mit einem Messer in der Tasche rum”, Schießereien seien an der Tagesordnung. Insofern sei eine Pistole eine “Vorsichtsmaßnahme”.
Richter Meinerzhagen reagiert ungehalten auf diese Darstellung. Er sagt, in seinen 15 Jahren am Landgericht, habe er noch nie etwas von Schüssen auf offener Straße im Jungbusch gehört. Er fragt den Angeklagten:
Wollten Sie unbedingt der erste sein, der da rumballert?
Mehmet C. zufolge, habe er die Waffe nicht einsetzen wollen – vielmehr sei er durch die Umstände dazu gezwungen worden. Als er mit seinem Freund den Jungbusch erreichte, wurde dieser unvermittelt von einer größeren Gruppe von Personen angegriffen. “Locker 15 bis 20 Leute waren da, zum Teil bewaffnet”.
Sein Freund sei brutal zu Boden geprügelt worden und habe schon Blut gespuckt. Dann habe er einen Schuss in die Luft abgegeben. Und die Angreifer wären tatsächtlich von Osan abgelassen – allerdings hätten sie sich jetzt ihm zugewandt und angefangen ihn zu umkreisen.
“Ich wurde bedroht”
Einer der Leute sei mit einem großen Messer bewaffnet gewesen und habe ihn “ins Visier genommen”. Mehmet C. habe sich bedroht gefühlt, sagt er. “Ich habe um mein Leben und um das meines Freundes gefürchtet.”
Dann habe er, um zeigen, dass er es “ernst meint”, einen weiteren Schuss abgegeben. Und zwar zwischen den Menschen hindurch. Er habe dabei “bewusst an den Leuten vorbei geschossen”. Er sagt dazu:
Es wäre ein Leichtes gewesen, jemanden zu töten, wenn ich das gewollt hätte.
Bei all den anwesenden Personen hätte er “einfach in die Menge schießen müssen”. Stattdessen habe er auf einen Rolladen gezielt, wo niemand gestanden hätte. “Ich wollte diesen Leuten zeigen, dass es eine echte Waffe ist”. Vorher hätten “die ja noch denken können, es wäre eine Schreckschusspistole”.
“Ich habe vorher noch nie geschossen”
Seine Pistole habe er gekauft, noch bevor er seine erste Haftstrafe absitzen musste. Er sei in dieser Zeit “ganz schön schräg drauf” gewesen. Mehmet behauptet, er habe die Waffe noch nie zuvor benutzt.
Andere Zeugen zufolge habe sich der Vorfall etwas anders abgespielt, sagte Richter Meinerzhagen. Mehmets Freund solle die Gruppe provoziert haben, sei dann von einem Faustschlag getroffen worden und zu Boden gegangen.
Direkt danach sei Osan jedoch wieder aufgestanden. Erst dann habe C. geschossen. Der zweite Schuss habe die Gruppe der Angreifer tatsächlich verfehlt – allerdings sollen direkt vor dem getroffenen Rolladen angeblich vier Unbeteiligte gestanden haben, die durch den Schuss in Lebensgefahr gebracht worden sein sollen.
“Ich kam mir vor wie ein wildes Tier”
Nach dem zweiten Schuss, den er abgegeben hat, ist Mehmet geflohen – hier stimmen die Darstellungen wieder überein. Der Angeklagte sagt aus, er habe “Todesangst durchlitten”. Er habe noch zwei weitere Schüsse abgegeben, allerdings auf den Boden gezielt. “Ich wollte niemanden töten, wirklich nicht.”
C. schildert, dass er es “nie für möglich gehalten habe, dass in Mannheim so etwas passiert”:
Ich kam mir vor wie ein wildes Tier, das durch den Dschungel gejagt wird.
Ein wütender Mob habe ihn mit Baseballschlägern und Schlagstöcken verfolgt. Er habe noch nie “eine solche Aggresivität erlebt”. Richter Meinerzhagen fragt ihn, ob er sich schon einmal Gedanken darüber gemacht habe, dass er diese Aggressionen durch seine Schüsse provoziert haben könnte?
Diese Frage versteht Mehmet offensichtlich nicht. Mit großen Augen schaut er den Richter an und runzelt die Stirn. Richter Meinerhagen versucht, die Frage noch einmal einfacher zu formulieren – aber der Angeklagte kann immer noch nichts damit anfangen.
“Zumindest grob fahrlässig”
Mehmet ist dem “wütenden Mob” schließlich entkommen. Und zwar weil die Polizei ihm Handschellen angelegt und ihn in Gewahrsam genommen hat. Mehmets Freund, Osan, wurde mit mehreren Frakturen und weiteren schweren Verletzungen ins Universitätsklinikum eingeliefert, wo er sich zehn Tage in stationärer Behandlung befand.
Oberstaatsanwalt Hofmann hält es nach eigener Aussage für wahrscheinlich, dass der Angeklagte wirklich keine konkrete Tötungsabsicht hatte. Darauf komme es aber gar nicht so sehr an:
Selbst wenn es keine Tötungsabsicht gab, war diese Handlung zumindest noch grob fahrlässig und er hat als ungeübter Schütze den Tod von mindestens einer Person billigend in Kauf genommen.
Auf eine Distanz von etwa zehn Metern mit einer kurzläufigen Schusswaffe präzise zu zielen, sei selbst für geübte Schützen eine Herausforderung, sagt der Staatsanwalt. Ohne jegliche Erfahrung wäre es nahezu unmöglich, eine Kugel auf diese Entfernung dort eintreffen zu lassen, wo man sie haben will.
Die eigentliche Eskalation der Gewalt fand vor den Schüssen statt – als etwa 40 bis 60 teilweise bewaffnete Menschen aneinander gerieten. Hierbei handelt es sich um einen Familienstreit, in den insbesondere der Bruder . Sind den eigenen Schilderungen zufolge “eher zufällig” in das Geschehen hineingeraten.
Aufklärung angestrebt
Die genauen Umstände, wie es zur Massenschlägerei gekommen ist, sollen im laufenden Prozess aufgeklärt werden. Das ist eine ambitionierte Zielsetzung. Denn nicht alle Beteiligten an der Schlägerei konnten festgestellt werden.
Die geladenen Zeugen sind zu einem großen Teil Angehörige einer der beiden Familien – und werden dementsprechend vermutlich versuchen, das eigene Lager zu schützen und in einem guten Licht darzustellen.
Bislang wurden neben dem Angeklagten bereits vier weitere Zeugen angehört, unter anderem Mehemts Freund Osan. Die Vernehmungen haben bislang eher wenig Klarheit geschaffen. Fünf erheblich unterschiedliche Darstellungen der gleichen Geschichte. Der nächste Verhandlungstag findet am Donnerstag, dem 05. Februar, statt. Hier sollen neun weitere Zeugen befragt werden.